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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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beruhigte sie, den Verkehr unten auf der Commonwealth Avenue zu beobachten. Bäume und Parkbänke säumten die Promenade in der Mitte. Wenn es schneite wie einige Tage zuvor, hüllten sich die Rasenflächen zu beiden Seiten in eine weiße Decke, auf der normalerweise gegen Abend leuchtend bunte Flecken erschienen – Kinder, die sich mit Schneebällen bewarfen und Schneemänner bau-ten.
    Einige junge Leute gingen unter Audrey auf der Straße vorbei, und sie beneidete sie. Sicher waren es Studenten der Boston University, von deren Einrichtungen viele an der Commonwealth Avenue lagen. Sie waren zu dritt, zwei junge Männer und eine Frau, und hatten sich in dicke Mäntel ge-hüllt. Ihre Gesichter waren bleich vor Kälte, doch das machten die gesunden roten Flecken auf ihren Wangen, vor allem jedoch ein kaum gezügelter Ausdruck der Begeisterung auf ihren Gesichtern, einfach, weil sie lebendig waren, weil sie lebten, wieder wett. Einst war Audrey auch so gewesen. Sie und ihre Freunde Zach und Leo. Die drei hatten die Arroganz jener besessen, die die Welt verändern wollen, die ungetrübte Überzeugung, dass die Zukunft Großes für sie bereithielt. Doch am Ende hatten sie eine Niederlage erlitten. Die Welt hatte sich nicht geändert. Sie hatten sich geändert. Und zwar deutlich zum Schlechteren.
    In der Fensterscheibe sah Audrey das Spiegelbild ihres bitteren Lächelns. Sie fühlte sich so einsam … Leo war seit nunmehr neun Jahren tot. Sein Herz hatte sich geweigert, weiter einen Körper von hundertzwanzig Kilogramm mit einer vom Alkoholmissbrauch zerstörten Leber zu erdulden. Leo war von seinem Herzen im Stich gelassen worden; sie selbst war von Zach im Stich gelassen worden, als er erfahren hatte, dass sie schwanger war. »Ich will für niemanden verantwortlich sein«, hatte der miese Kerl gesagt. Als sie sich auf dem Rücksitz seines Chevrolet vergnügt hatten, hatte er dar-an keinen Gedanken verschwendet.
    »Das Leben ist beschissen«, sagte Audrey genau in dem Augenblick, in dem fröhliches Lachen von der Straße zu ihr he-raufdrang, durch die Glasscheibe ein wenig gedämpft.
     
    Der Nachmittag eines Tages, der schon regnerisch und eisig begonnen hatte, ging zu Ende. Audreys Regenschirm isolierte sie von einem grauen Himmel, zu dem ihre düstere Miene gut passte. Bald würde auch dieses zaghafte Grau schwinden, wenn die Nacht das wenige Licht schluckte, das der Morgen gebracht hatte.
    Ihr Terminplan war voller Therapiesitzungen gewesen. Ein suizidgefährdeter Manisch-Depressiver, drei Zwangsneuroti-ker und zwei Alkoholiker hatten ihr in allen Einzelheiten von ihrem Elend erzählt. Man hätte sagen können, es sei kein gu-ter Tag gewesen, wenn das nicht für jeden Tag gegolten hät-te. Dabei lag die absurdeste Sitzung noch vor ihr.
    Als sie im Altenheim der Vinzentinerinnen ankam, sagte ihr die Oberin, Daniel sei in seinem Zimmer. Dorthin ging Audrey nun. Mehr denn je schien ihr, der enge Korridor, der zu den Zimmern der alten Menschen führte, müsse zwangsläufig in der Klaustrophobie münden. Der in zwei Grüntönen geflieste Boden war durch die Reinigung mit billigen Putz-mitteln glanzlos geworden. Doch trotz des Gestanks nach Putzmittel roch sie den typischen Geruch von Krankheit und Verfall.
    Nicht zum ersten Mal nahm sie sich vor, diese selbst aufer-legte, mühevolle Arbeit aufzugeben. Und niemand, nicht einmal die Oberin, könnte ihr einen Vorwurf machen, wenn sie es täte. Doch sie konnte sie nicht aufgeben. Sie musste sich weiter zwingen, ins Altenheim zu gehen und Geld für wohl-tätige Zwecke zu spenden. Nur so konnte sie Gott beweisen, dass er sie fälschlich bestraft hatte, indem er ihr dessentwegen, was in Harvard geschehen war, als sie noch eine einfache Studentin gewesen war, den Sohn genommen hatte. »Es war ein Unfall, ein schrecklicher Unfall«, sagte sie sich erneut, wie schon tausendmal zuvor.
    Sie war erleichtert, als sie Daniels Zimmer erreichte. Sich auf das zu konzentrieren, weswegen sie gekommen war, wür-de sie von ihren schmerzlichen Erinnerungen ablenken. Als sie eintrat, sah sie, dass der Alte müde, aber vergnügt auf dem Bett saß. Im Badezimmer sang eine Männerstimme: »She’ll look at you and smile, and her eyes will say, she’s got a secret garden where everything you want, where everything you need will always stay …«
    Ein Wasserhahn wurde zugedreht. Ein Mann kam mit Daniels Rose aus dem Bad. Er hatte sie gewässert.
    »… a million miles away«, beendete Audrey den

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