616 - Die Hoelle ist ueberall
nichts dagegen tun können, als er gesehen hatte, was Zach gerade gemacht hatte.
»Still … du Idiot!«
Leo schwor bei sich, wenn Zach ihn noch einmal so nannte, würde er ihm die Fresse polieren. Dieser Gedanke schoss ihm blitzartig, beinahe unbewusst, durch den Kopf, denn er war vor Entsetzen wie gelähmt. Zach hatte seinen Schal um eine Hand gewickelt und die Fensterscheibe eingeschlagen. Das gehörte nicht zu ihrem Plan. Jedenfalls nicht zu Leos Plan.
»Wusstest du was davon?«, fragte er Audrey.
»Zach, wo willst du hin, verdammt noch mal?«
Audreys Frage beantwortete Leos Frage. Sie war ebenso überrum-pelt wie ihr alter Freund.
»Dieses Gebäude wird gleich zum zweiten Mal brennen«, sagte Zach.
Er hatte die verbleibenden Glassplitter aus dem Rahmen entfernt, damit er durch die Öffnung ins Souterrain von Harvard Hall einsteigen konnte. Ehe er im Innern verschwand, fügte er hinzu: »Das wird die Aufmerksamkeit unserer Landsleute auf den Irak richten, meint ihr nicht?«
Sie antworteten nicht. Sie waren zu benommen, als dass ihnen ei-ne Antwort eingefallen wäre. Das Schlimmste war, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten. Sie hätten hinter Zach herlaufen und ihn davon abhalten sollen, das Gebäude in Brand zu stecken. Das erschien ihnen am richtigsten. Doch der Wunsch zu fliehen war stark.
»Ich haue hier ab«, sagte Leo. »Damit will ich nichts zu tun ha-ben.«
»Warte. Leo … Ich …«
Audrey hatte sich noch nicht entschieden, was sie tun sollte. Dafür brauchte sie mehr Zeit, und außerdem durfte Leo sie dabei nicht allein lassen.
»Ist da jemand?«
Die unerwartete Frage ließ Audrey und Leo den Atem anhalten. Sie sahen das Licht einer Taschenlampe näher kommen und wären beinahe übereinander gestolpert in dem Versuch zu fliehen, als ihre Beine ihnen wieder gehorchten. Der Wachmann kam durch das Johnston Gate zu ihrer Linken, und Leos und Audreys erster Impuls bestand darin, in die Gegenrichtung davonzurennen, in Richtung Hollis Hall. Doch dann wurde ihnen klar, dass sie die Ecke nicht erreichen würden, ohne dass der Wachmann sie sah. Instinktiv stürz-ten sie mit ihren Säcken zu einem Häuschen, das sich vor ihnen be-fand. Trotz der Kälte schwitzten sie beide. Sie hatten Glück, dass der Wachmann nicht von einem Hund begleitet wurde, denn dann hätte er sie längst entdeckt. Audrey und Leo sahen vorsichtig nach, was der Wachmann, ein kleiner Mann mit einem umfangreichen Bauch, tat. Er war nicht weit entfernt gewesen, als Leo geschrien hatte, und wollte nach der Ursache sehen. Er hatte mit irgendeinem Studenten gerechnet, der betrunken durch die Gegend torkelte. Deshalb war er beunruhigt, als er die Flugblätter entdeckte, welche die drei Freunde angebracht hatten.
»Aber was zum Teufel …? ›Heute werden im Irak wieder tausend Kinder sterben‹«, las der Wachmann laut vor.
Die Beunruhigung des Wachmanns steigerte sich noch, als er das Gebäude überprüfte und dabei entdeckte, dass eines der Fenster zerbrochen war. Wer der Übeltäter auch gewesen sein mochte, er hatte sich die Mühe gemacht, die Öffnung von Glassplittern zu befreien, um ins Gebäude einsteigen zu können.
»Harry …«, rief er über Funk einen Kollegen. Die einzige Antwort war ein statisches Rauschen, doch er gab nicht auf. »Harry, hörst du mich? Scheißding!«
Mit großen Schritten eilte der Wachmann die Treppe zur Eingangstür hinauf. Nach wenigen Sekunden hatte er den richtigen Schlüssel gefunden, die Tür geöffnet und Harvard Hall betreten. Von ihrem Versteck aus sahen Audrey und Leo, wie in den einzelnen Räumen nach und nach das Licht anging, als der Wachmann sich durch das Gebäude bewegte. Doch ab einem bestimmten Punkt – im zweiten Stock – ging kein weiteres Licht mehr an.
»Er hat ihn entdeckt …«, sagte Audrey.
Leo packte sie am Arm, weil er wusste, was sie gleich tun würde.
»Du erreichst nur, dass sie euch beide festnehmen.«
»Ich kann doch nicht zulassen, dass …«
Audrey brach mitten im Satz ab, als sie sah, dass die Lichter in Harvard Hall in entgegengesetzter Reihenfolge eines nach dem anderen wieder erloschen. Das letzte Licht, das erlosch, war das im Eingangsbereich. Und aus dem dunklen Gebäudeinneren trat Zach.
»Ihr müsst mir helfen. Dieser Typ wiegt mindestens hundert Ki-lo.«
Diesmal konnte Leo nicht verhindern, dass Audrey auf das Ge-bäude zulief. Als sie ihren Geliebten erreichte, sah sie Blut in seinem Gesicht.
»Was ist passiert? … Was hat er mit dir
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