616 - Die Hoelle ist ueberall
darum herum Feuer und loderten sogleich hellauf. Ein Hitzestrahl schlug ihnen entgegen. Der Wachmann drehte sich um und stand auf, dann entfernte er sich taumelnd von Audrey. Sein Kopfwunde blutete wieder. Er war desorientiert, sein Blick leer. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es drang nur eine unartikulierte Klage daraus hervor. Diese Klage verwandelte sich in einen herzzerreißenden Schrei, der Audrey noch immer manchmal mitten in der Nacht weckte.
Die Beine des Mannes standen in Flammen. Er war in einer kleinen Pfütze mit Grillanzünder stehen geblieben, die das Feuer bereits erreicht hatte. Die Flammen wanderten blitzschnell seinen Körper empor, bis zu seinem Gesicht. Und der Mann hörte nicht auf zu schreien, immer lauter und lauter. Der Geruch der Flüssigkeit wich einem unheilvollen, süßlichen Gestank, bei dem Leo sich übergeben musste.
Sie taten nichts, um den Wachmann zu retten. Sie sahen ihn verbrennen, und sie taten nichts. Keiner der drei war fähig, sich zu rühren. Nicht einmal, um zu fliehen. Wie gebannt beobachteten sie diese grauenvolle Art zu sterben. Das füllige Gesicht des Wachmanns verwandelte sich. Der Mund und die Augenhöhlen wurden zu schwarzen Löchern. »Ein Kürbis«, dachte Audrey, beinahe fiebernd. »Er sieht aus wie ein Halloween-Kürbis.«
»Raus!«
Zachs Schrei rettete sie. Es war seine einzige gute Tat in dieser ganzen verfluchten Nacht.
Begleitet vom ohrenbetäubenden Heulen des Feueralarms rannten sie ins Freie. Es dauerte nicht lange, bis in der Nähe mehrere Lichter angingen. Die verschlafenen Mienen derer, die aus den Fenstern blickten, nahmen beinahe sofort einen entsetzten Ausdruck an. »Feu-er!«, war aus immer mehr Kehlen zu hören. Harvard Hall stand von einem Ende zum anderen in Flammen.
Sie wussten nicht, ob irgendjemand sie erkannt hatte, denn sie trugen ihre Strumpfmasken nicht mehr. Doch dem galt im Augenblick nicht ihre größte Sorge. Sie wollten so schnell wie möglich fort. Nicht fort vom Feuer, sondern von dem armen Mann, der da drin verbrannte. Und von seinen Schreien, die bereits für immer verstummt sein mussten.
Sie flohen ziellos. Deshalb liefen sie auch nicht zurück zum Au-to, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Erst, als die Statue von John Harvard vor ihnen aufragte, fiel es ihnen auf. Diesmal berührte Leo nicht ihren Fuß, damit John Harvard ihm Glück brachte. Seit jener Nacht tat er es nie wieder.
Das Gesicht der Statue schien sie mit einer Strenge zu beobachten, die zuvor nicht daran zu bemerken gewesen war. Ein stummer Vorwurf lag darin, dessentwegen, was sie getan hatten, und der Lüge wegen, hinter der sie ihr Geheimnis von nun an für den Rest ihres Lebens würden verbergen müssen. Eine weitere Lüge für die »Statue der drei Lügen«, über deren Kopf die Fahne mit dem Wappen von Harvard und dem Leitspruch »VERITAS« – Wahrheit – wehte.
9
Padua, Italien
Nie zuvor hatte Albert Cloister eine so überwältigende Einsamkeit verspürt wie beim Anblick der dicken Mauern des vor über tausend Jahren erbauten Klosters der Santa Giustina. Ein ganzes Jahrtausend, entschwunden im unerbittlichen Strudel der Zeit. So vieles war vergangen, während diese be-hauenen Steine unversehrt an ihrem Platz verharrten. Kälte, Hitze, Regen, Schnee – alles kam und ging vorüber. Eine unsichtbare Hand schloss sich um das Herz des Priesters, eine schwindelerregende Leere hatte sich in seinem Inneren einge-nistet. Er war sehr ruhig, doch es war die Ruhe, die häufig einer Erschütterung oder entscheidenden Ereignissen voraus-geht.
»Kommen Sie bitte herein, Pater«, wurde Albert von der kaum hörbaren Stimme eines kleinen Mönchs begrüßt, der gekommen war, ihn zu empfangen.
Es war ein strahlend schöner Tag, wenn auch sehr kalt. Die Luft im Inneren des Klosters war eisig und feucht. Die beiden Männer gingen einen im Halbdunkel liegenden Korridor entlang und traten dann in einen Kreuzgang mit gotischen Säulen hinaus, der über dem ursprünglichen romanischen Kreuzgang errichtet worden war. Die Gotik hatte Albert Cloister im Gegensatz zu den meisten Menschen nie so bezaubert wie die Romanik. Romanische Bauwerke mit ihren schweren, kom-pakten Steinblöcken, ihrer Größe, ihrer nüchternen, geraden, soliden Erscheinung zog er den sehr gegensätzlichen, hoch-aufgeschossenen und bemüht großartigen gotischen Bauten vor. Die Romanik war nobler, authentischer.
»Bruder Giulio wird Sie in seiner Zelle empfangen. Seit Monaten
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