616 - Die Hoelle ist ueberall
infolge des Kriegs. Er studierte nicht zufällig Politikwissenschaften. Leo ebenso wenig. Beide waren Idealisten, aber jeder auf seine Weise: Während Leo die Politik als Werkzeug sah, um die Welt zu verbessern, betrachtete Zach sie als Waffe, mit der man die Welt gewaltsam verändern konnte. Und was sie in dieser Nacht vorhatten, kam Zachs Vision näher.
Das erste Glas Jack Daniels trank Audrey in einem Zug aus. Ohne das Gesicht zu verziehen. Mit der Kunst des Trinkens ist es wie mit dem Fahrradfahren: einmal gelernt, verlernt man es nie mehr. Und sie war zu Beginn ihrer Studentenzeit durch eine intensive Lehrzeit gegangen. Erst nachdem sie im ersten Semester in sämtlichen Fächern durchgefallen war, nahm sie das Studium ernst und legte ihre schlechten Angewohnheiten ab. Doch hier waren sie wieder, so frisch wie am ersten Tag.
Das zweite Glas des kupferfarbenen Whiskey aus Tennes-see füllte sie bis zum Rand und versank dann gegen ihren Willen wieder in ihren Erinnerungen.
Einen Tag, bevor das alles geschah, hatten sie sich immer noch nicht auf eine Aktion geeinigt, auch wenn die Absicht bei allen dreien klar war: irgendeine Form von aktivem Protest gegen den ersten Golfkrieg, wobei sie sich den Medienrummel um Yitzhak Rabins Vortrag in Harvard zunutze machen wollten. Aber Zachs Ideen waren Audrey und Leo zu radikal. Sie wollten den Campus nur mit Flugblättern überschwemmen. Es sollten so viele sein, dass man sie unmöglich alle noch vor der Ankunft von Rabin und besonders der Journalisten entfernen konnte.
»Ich finde, der Leitspruch sollte so etwas sein wie ›Krieg führt nie zum Frieden‹«, schlug Leo vor.
»Das ist zu allgemein«, meinte Audrey. »Und außerdem, was ist mit dem Zweiten Weltkrieg? Findest du nicht, dass dieser Krieg zum Frieden geführt und uns von Hitler und seinen Spießgesellen befreit hat? Das Problem ist nicht so sehr der Krieg an sich, sondern die Art, wie er geführt wird. Die Bomben unserer Truppen haben da drüben fast alles zerstört. In weiten Teilen des Irak gibt es kein fließendes Wasser, keinen Strom, keine vernünftige medizinische Versorgung. Sie haben kaum zu essen, und was der Rest der Welt schickt, kommt auch nicht beim irakischen Volk an. Das muss man sagen!«
Es war Zach, der Audrey antwortete, und zwar auf eine krän-kende Art: »Wenn wir das alles sagen wollen, brauchen wir Flugblät-ter, so groß wie das Stadion der Red Sox …«
»Da irrst du dich«, entgegnete Audrey verärgert. »Es reicht, wenn wir schreiben: ›Heute werden im Irak wieder tausend Kinder sterben.‹«
Das Schweigen, das auf Audreys Vorschlag folgte, wirkte vielver-sprechend.
»Mir gefällt es«, sagte Leo.
»Also mir nicht.«
Zach erhob sich von seinem Stuhl. Das kleine Zimmer bot nicht viel Platz zum Umherlaufen. Deshalb konnte Zach immer nur drei, vier Schritte in eine Richtung tun, während er auf und ab lief wie ein unruhiger Löwe in seinem Käfig. Seine Stimme veränderte sich. Nun klang er aggressiver: »Das ist doch alles Schwachsinn! Wir müssen schon etwas drastischer werden, damit sie uns beachten! Die Flugblät-ter reichen nicht!«
»Ja, deine Vorstellungen kennen wir schon«, sagte Audrey. »Wir haben sie uns den ganzen Nachmittag angehört. Fehlt nur noch, dass du vorschlägst, wir sollen Rabin umbringen! Wäre das dann drastisch genug für dich? … Sei mal realistisch, Zach.«
Der setzte sich wieder. Scheinbar wurde er ebenso schnell wieder vernünftig, wie er zuvor den Kopf verloren hatte. Doch sein Blick drückte etwas anderes aus, und deshalb hielt er den Kopf gesenkt und sah zu Boden statt Audrey in die Augen, als er sagte: »Du hast recht. Ihr habt beide recht … Okay. Machen wir diese Flugblätter.«
Den restlichen Nachmittag und einen Gutteil des Abends verbrachten sie mit dem Druck Hunderter von Flugblättern. Als der Tag, an dem sie zu ihrem speziellen Schlag ausholen wollten, däm-merte, hatten sie drei große Müllsäcke voller Flugblätter mit dem Spruch: »Heute werden im Irak wieder tausend Kinder sterben.« Sie beschlossen, sie nur in den wichtigsten Gebäuden im Herzen der Universität, dem Old Yard, und in der politikwissenschaftlichen Fa-kultät zu verteilen. Was übrig blieb, würden sie an möglichst vielen Stellen auf dem Campus auf dem Boden verstreuen. Das war der Plan.
Sie kamen überein, dass sie versuchen sollten zu schlafen, ehe sie sich nachts trafen, aber als Zach Leo um drei Uhr morgens die Tür seiner Wohnung öffnete, sah
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