616 - Die Hoelle ist ueberall
Jedenfalls solange kein Wachmann sich einfallen ließ, hier einen Kontrollgang zu machen. Audrey blickte nach oben, zum Himmel, der voller leuchtender Punkte hing, von dem sie jedoch nur einen schmalen Streifen sehen konnte. Sie hatte Lust zu singen. Sie war in Hochstimmung. Solche Wunder bewirkt das Adrenalin. Sie senkte den Blick wieder zu ihrem Freund aus Kindertagen und ihrem Geliebten und sagte: »Wollt ihr die ganze Nacht hier sitzen bleiben? Los geht’s.«
Jeder nahm sich ein anderes Gebäude vor. Zach das Ruhenstein Building, Leo das Belfer Center und Audrey das Littauer Building, in dem sich der Veranstaltungssaal der Fakultät befand. So blieb nur ein Gebäude übrig, das Taubman Center, dem sich derjenige von ihnen widmen würde, der zuerst fertig war. Sie pflasterten alles mit Flugblättern: Wände, Fenster, Türen, Bäume, Hecken, Straßenlaternen … Und sie brauchten auch nicht sehr lange dafür, denn sie befestigten sie mit Kaugummi. Das war Leos Idee gewesen, und es funktionierte hervorragend.
Audrey hatte seit jener Nacht kein Kaugummi mehr gekaut. Schon bei dem Geruch drehte sich ihr der Magen um. So ähnlich war die Wirkung, die der Whiskey allmählich auf sie hatte. Sie hatte beinahe die halbe Flasche geleert und lag mehr, als dass sie saß, in ihrem Lieblingssessel vor dem Kamin, in dem sie gerade Holz nachgelegt hatte. Vielleicht hatte sie es doch verlernt. Vielleicht war die Kunst, Alkohol zu trinken, doch nicht das Gleiche wie Fahrrad zu fahren, und mit der Zeit vergaß man es wieder. Aber manche Dinge vergaß man niemals …
Der Weg von der politikwissenschaftlichen Fakultät zum Old Yard war beängstigend. Der halbe Kilometer wurde ihnen unsagbar lang. Es war eine Sache, tagsüber die John F. Kennedy Street entlangzu-gehen, ohne etwas zu verbergen zu haben, aber es war etwas völlig anderes, es mitten in der Nacht zu tun und jeden Moment eine Entdeckung zu befürchten. Es wäre viel einfacher und weniger gefährlich gewesen, zum Auto zurückzugehen und damit bis in die Nähe des Old Yard zu fahren. Leider war es bereits zu spät, als ihnen diese Idee kam. Als sie schließlich mit dem Dudley House das Südende des Old Yard erreichten, hatte die Anspannung ein Ende. Sie gestatteten sich nicht viel Zeit, um sich wieder zu beruhigen und zu Atem zu kommen. Es gab hier zwei Studentenwohnheime, deshalb mussten sie sich beeilen.
Sie verteilten in sämtlichen Ecken in der Nähe Flugblätter, und als Nächstes war das älteste Gebäude der Harvard University dran, Massachusetts Hall. Es beherbergte die Büros der Würdenträger der Universität sowie in den oberen Stockwerken Studentenzimmer. Dann fehlte nur noch Harvard Hall, ein weiteres altes Universitätsge-bäude, dass zudem seine eigene Legende hatte. Dieser Legende zufolge wütete in der Nacht des 24. Januar 1764 ein heftiger Schneesturm. Und ausgerechnet in dieser, für einen Brand so unge-eigneten Nacht, gellte auf dem Campus ein Feueralarm. Harvard Hall, dessen größter Schatz die fünf Millionen Bände seiner Bibliothek waren, stand in Flammen. Es war Ferienzeit, und auf dem Campus befand sich kaum jemand, der hätte versuchen können, den Brand zu löschen. Das Feuer wütete ungehindert in dem ehrwürdigen Gebäude, und beinahe sämtliche Bücher gingen in Flammen auf, darunter der Legende zufolge sämtliche Bücher, die John Harvard 1638 der damals gerade gegründeten Universität vermacht hatte. Alle bis auf eines, das dem Feuer dank eines Studenten namens Ephraim Briggs entging, der es nicht rechtzeitig zurückgegeben hatte. Der Titel jenes einzigen Buches von John Harvard, das diesen so untypischen und wütenden Brand überlebte, lautete auf Deutsch »Der Krieg der Christenheit gegen den Teufel, das Weltliche und die Fleischeslust« und war von John Downame.
Audrey und Leo befestigten Flugblätter an den Wänden von Harvard Hall und verteilten sie auch in der Nähe. Sie hatten es eilig, fertig zu werden, denn danach konnten sie zum Auto zurückkehren. Alles Übrige würde ein Kinderspiel sein: Zach würde noch ein paar Runden durch die nähere Umgebung fahren, während sie Flugblätter aus dem Autofenster werfen würden wie Konfetti.
»Was hast du vor, Zach?«, flüsterte Audrey, plötzlich beunruhigt.
Anstatt Flugblätter zu verteilen, hatte ihr Geliebter sich vor eines der Fenster im Souterrain gehockt, das hinter dem Gebüsch verborgen lag.
»Nein!«, schrie Leo.
Unwillkürlich war er laut geworden. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher