616 - Die Hoelle ist ueberall
blutrünstige Jäger zutage, das erbarmungslose Wesen, das furchterregende Raubtier. In jener Gegend von Sizilien hatte das Böse machtvolle Wurzeln geschlagen. Es war noch in die kleinsten Rit-zen und an die verborgensten Stellen vorgedrungen.
Was das Verbrechen der Mädchen betrifft, von dem ich dir erzählt habe, herrschte Schweigen. Und Vergessen. Die, die es gar nicht erst verstanden hatten, wollten es umso schneller vergessen. Einen so schrecklichen Schmerz, der so tief verletzt, kann man nicht lange ertragen. Für das Dorf waren zwölf Kinder in einem unglückseligen Feuer umgekommen. Wieso die sechs Mädchen und die sechs männlichen Säuglinge allein in einer Scheune gewesen waren, schien ein Rätsel zu bleiben. Aber ich weiß, was geschah. Die sechs Mädchen trugen die Säuglinge in die Scheune und erstickten sie. Dann legten sie Feuer in der Scheune. Der Bürgermeister, der Hilfsgeistliche der Gemeinde, zwei Bauern und ich kamen kurz vor dem Ende dort an. Die Mädchen lachten und voll-führten Purzelbäume, und ihre Gesichter … Ich weiß nicht, wie ich die Gesichtchen der Mädchen beschreiben soll, als sie ihr schauriges Verbrechen betrachteten. Für mich war es das Werk Satans. Irgendwie hatte er Besitz von ihnen ergriffen. Aber die Besessenen verlieren ihren freien Willen nicht ganz, deshalb war das für mich unsagbar verstörend. Wir versuchten, sie zu packen. Einer der rauhbeinigen Bauern stürzte bei dem Anblick wie ein nasser Sack zu Boden. Wir anderen versuchten, schnell zu handeln, doch wir waren nicht schnell genug, um das Feuer zu verhüten. Eines der Mädchen ent-zündete es mit einer Flasche Benzin. Das Feuer loderte auf und breitete sich rasch aus. Wir liefen los, um die Mädchen zu retten. Wir taten unser Möglichstes, aber vergeblich. Die sechs Mädchen starben neben den Leichen der Neugebore-nen. Der Bauer, der ohnmächtig geworden war, starb noch in derselben Nacht. Der Bürgermeister erlitt schwerste Verbrennungen bei dem Versuch, die Mädchen zu retten, und lebte nur noch wenige Tage. Der andere Bauer starb zwei Monate später; niemand wusste, woran. Seine Frau fand ihn mit weit aufgerissenen Augen und gekrümmten Fingern im Bett. Mein Hilfspriester, ein guter, edelmütiger Mann, erhängte sich kurz darauf. Auch ich hatte Verbrennungen an Gesicht und Hän-den. Das Mädchen mit der Flasche hatte mich mit Benzin begossen, als sie selbst schon in Flammen stand. Aber im Gegensatz zu den anderen hatte ich ein langes Leben. Vielleicht war das eine Strafe oder ein Fluch. In den Flammen, die mir das Gesicht verbrannten, sah ich wie in einem Spiegel ein anderes Gesicht. Es drückte unerschütterliche Ruhe aus. Es wirkte sogar traurig oder melancholisch auf mich. Es sah mich an, und ich wusste, das war das personifizierte Böse. Doch es machte sich nicht über mich lustig, es tat gar nichts. Es blieb nur einen Augenblick sichtbar und verschwand dann. Diesen Blick habe ich nie vergessen, und ich werde ihn auch nie vergessen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir. Er ist immer hier, in der Dunkelheit.«
»Was Sie mir da erzählt haben, ist ja schrecklich. Und die-ses Gesicht, das Sie beschrieben haben … So hätte ich es auch beschrieben. Sein Blick war ruhig und schrecklich. Aber wo-hin führt uns das? Was bedeutet es?«
Der alte Mann bewegte den Kopf auf dem Kissen. Seine Arme fielen matt auf die rauhe Wolldecke zurück. In einer Hand hielt er ein silbernes Kruzifix. Dies war weit mehr als der Besuch eines jungen Mannes, der zum ersten Mal den Mächten der Finsternis begegnet war. Seine Seele brauchte Unterstützung, Trost, Führung und Rat. In seinem langen Leben hatte Bruder Giulio niemals gedacht, dass es so wenig aufsehenerregend, so ohne Erschütterungen und Umwälzun-gen zugehen würde, wenn derjenige, der den Kreis schließen würde, zu ihm kam. Derjenige, der seine Vision verstehen würde, weil er die gleiche gehabt hatte. Was konnte das bedeuten? Wohin würde es führen? Er wusste es nicht. Die See-lenstärke, die er in seinen vielen Lebensjahren in sämtlichen Situationen, darunter zwei Weltkriegen, bewiesen hatte, nun war sie dahin, zerbrochen wie zartes Glas. Ganz besonders seit Papst Johannes Paul IL gestorben war … Doch davon würde er dem jungen Priester nicht erzählen. Daran durfte er jetzt nicht denken. Daran wollte er jetzt nicht denken. Die Zeit, die ihm noch geblieben war, wurde ihm bitter; es war eine Bitterkeit, die sich wie Gift in sein Inneres
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