616 - Die Hoelle ist ueberall
hineinfraß. Tapfer fasste er sich so weit, dass er Albert mit einer frommen Lüge antworten konnte, die mehr dazu diente, seine eigenen Dä-monen zu bannen, als den Jesuiten zu beruhigen. Eine Lüge ist besser als die Wahrheit, wenn die Wahrheit dich auch nicht befreien kann.
»Dieses böse Wesen will dich von deinem rechten Weg und deiner Arbeit abbringen. Aber lass nicht zu, dass es das Böse in dir sät. Bleibe fest in deinem Willen und deiner Entschlossenheit. Vertraue stets auf Gott. Er ist das Licht, das uns auf unserem Weg durch die Finsternis leuchtet, auch wenn wir seine Handlungen nicht verstehen. Vertraue auf Gott, unseren Herrn, und er wird deinen Geist erleuchten.«
Diese Worte hätten glaubhafter geklungen, wären sie mit echter Überzeugung vorgebracht worden. Sie ergaben nicht einmal wirklich einen Sinn. Und der letzte Satz, mit dem der alte Mönch ihn ermahnte, auf den Allmächtigen zu vertrauen, erinnerte ihn allzu sehr an das, was er selbst bei ähnlichen Gelegenheiten gesagt hatte, wenn er keine eindeutigen Antworten gewusst hatte, die er den sehnlich darauf Hoffenden hätte geben können.
»Ich muss die Wahrheit wissen«, murmelte Albert, dann wiederholte er den Satz laut.
»Du musst jetzt nach Rom zurückkehren. Ich bin müde. Sag Ignatius, dass ich ihn in meine Gebete einschließe, und bitte ihn, auch für mich zu beten. Ich werde es sehr bald nö-tig haben.«
Bruder Giulio dachte kurz nach. Seit Cloister seine Zelle betreten hatte, hatte Bruder Giulio sich gefragt, ob Cloister wirklich alles erfahren solle. Er hatte Angst um ihn, und er tat ihm leid. Doch nun, am Ende ihrer Unterhaltung, hatte der junge Jesuit ihn mit seinen Worten davon überzeugt, dass er alle Fakten ken-nen sollte. Er dachte jetzt wieder das, was er schon vor ihrer Begegnung gedacht hatte, als Kardinal Franzik ihm wenige Tage zuvor seinen Fall geschildert hatte: Er hatte das Recht und beinahe die Pflicht als Priester, die Wahrheit zu suchen.
»Wenn du wieder in Rom bist, sag Monsignore Franzik, er soll dir den Kodex zeigen, der im Geheimarchiv aufbewahrt wird.«
»Einen Kodex?«, fragte Albert irritiert nach.
»Ja. Einen alten Kodex von unbekannter Herkunft. Ich hoffe, er nutzt dir auf dem dornenreichen Weg, der vor dir liegt. Johannes Paul II. selbst ist ihn gegangen, zumindest in den letzten Augenblicken seines Lebens.« Der alte Mann überlegte erneut, ob er ihm alles erzählen solle, und tat es dann doch: »Auch er hatte eine Vision des Jenseits, und wie bei so vielen war es keine glückliche Vision.«
»Der Papst?!«
»Auch er hat unsere Beunruhigung geteilt. Er wusste durch den guten Ignatius von deinen Nachforschungen. Bis zuletzt hat er sie nicht besonders ernst genommen …«
»Was hat Seine Heiligkeit gesehen?«
»Er sprach nur einen Satz, im Flüsterton. Einen Satz, den ich jetzt nicht wiederholen werde.«
Cloister wusste sofort, um welchen Satz es sich handeln musste, und sogleich lief ihm ein Schauder über den Rücken. Er wollte etwas sagen, aber Bruder Giulio hinderte ihn daran. Diesmal klang seine Stimme noch tiefer, er sprach sehr langsam, als müsste er um jede Silbe kämpfen.
»Jetzt lass mich allein, mein Sohn. Kehre nach Rom zu-rück. Bitte geh und lass mich allein. Desillusioniert wie ich bin. Ich wollte dich trösten, aber unsere Begegnung hat nur meine eigene Unruhe verstärkt. Ich kann dir nichts mehr sa-gen, ich muss meine Seele auf ihre letzten Momente in die-sem Körper vorbereiten. Ehrlich gesagt, wüsste ich auch nicht, was ich dir noch sagen sollte. Ich weiß nichts mehr, nicht einmal, was ich weiß und was ich nicht weiß. Hoffentlich zerstreuen meine Zweifel sich in der nächsten Welt. Dir bleibt noch Zeit, deine eigenen Zweifel zu klären, so Gott will. Kehre nach Rom zurück, und möge die Vorsehung dich leiten.«
Die letzten Worte des Mönchs klangen entschieden. Ver-stört stand Albert auf und nahm seine magere Hand. Die Haut fühlte sich an wie trockenes Pergament. Er drückte sie sanft, drehte sich wortlos um und verließ das Zimmer. Das war sein Abschied. Es gelang ihm, die Tränen herunterzuschlucken, doch er konnte nicht sprechen. Der arme, todgeweihte Alte hatte ihn noch tiefer ins Zentrum der Spirale hineingezogen, die ihn verschlang wie ein Meeresstrudel. Er war ein guter Mensch und ein Weiser. Doch dem, was der Jesuit mit sich herumtrug, hatte er keinen Sinn verleihen können. Im Gegenteil: Bruder Giulios Erzählungen von Johannes Paul II. und seiner eigenen
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