616 - Die Hoelle ist ueberall
reiner Schaueffekt gewesen, ein geschickter Trick, damit sie die Nerven verlor.
Audreys innere Stimme verstummte. Doch die Psychiaterin wusste, dass ihre Argumente sie nicht überzeugt hatten. Sie holte tief Luft und ließ den Motor an. Sie musste fort vom Altenheim, fort von Daniel. Sie fuhr zwei Querstraßen wei-ter, den Blick wie hypnotisiert auf die Fahrbahn gerichtet, und versuchte, ihren Geist zu leeren. Doch ihre Gedanken führten ein Eigenleben …
»Verdammt!«
Audrey vollführte eine Vollbremsung. Wäre hinter ihr ein Auto gefahren, es hätte ihr nicht mehr ausweichen können. Erst nachträglich wurde ihr das bewusst. Sie war verstört und beschloss ganz vernünftig, an den Straßenrand zu fahren.
Dann holte sie ihr Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und wartete.
»Ja, bitte?«
»Michael?«
»Audrey …?«
Der Physiker war nicht sicher, ob sie es war.
»Ja, ich bin’s, Audrey.«
»Ach, hallo! Wie geht’s? Hörst du mich gut? Ich bin in ei-nem Restaurant, und hier ist es höllisch laut.«
»Ja, ich höre dich gut. Ich wollte nur wissen … geht’s dir gut?«
»Ist was passiert? Du bist ganz anders als sonst … Mike, mein Junge, lass das los! Entschuldige, Audrey, dieses Kind ist ein richtiger Satansbraten. Wo waren wir?«
»Ist deine Frau bei dir?«
»Ja. Und wir wollen ein leckeres ›Joe’s Special‹ essen.«
»Ein ›Joe’s Special‹?«, fragte Audrey mit erstickter Stimme.
»Ja, in Joe’s Grill. Das ist in der Dartmouth Street, in der Nähe vom Vendange Building. Kennst du es?«
»Das ist ganz in der Nähe meiner Praxis.«
»Wenn du Lust hast, komm doch auch. Sie haben das Es-sen noch nicht gebracht.«
»Nein, danke. Ich … habe keinen Hunger.«
»Bist du sicher, dass es dir gut geht, Audrey?«
Sie beendete das Gespräch. Erneut zitterten ihr die Hände, doch diesmal vor Erleichterung.
Audrey brauchte länger als gewöhnlich für den Weg zu ihrer Praxis. Regen hatte dem sonnigen Tag ein Ende gesetzt, und Tausende von Fahrzeugen schleppten sich beklemmend langsam durch die nassen Straßen, als nähmen sie an einer Parade teil. Audrey sagte sich, es sei der passende Abschluss für einen grauenvollen Tag wie diesen. Der lästige Regen hatte nur noch gefehlt, um sie endgültig zu deprimieren. Traurigkeit hüllte sie ein, beinahe körperlich spürbar. Daniel hatte eine ganze Handvoll Salz in die offene Wunde gerieben, die Euge-ne fur sie immer sein würde.
Es war Sonntag. Sie hatte heute keine Klienten. Doch sie war nicht in die Praxis gefahren, um zu arbeiten. Sie betrat ihr Büro und ging zu einem großen Holzschrank an der rechten Wand. Dabei hinterließ sie auf dem Teppich feuchte, schmutzige Trittspuren – es würde ein Vermögen kosten, den Perserteppich reinigen zu lassen. Sie zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche, öffnete eine der Schubladen des Schranks und holte einen Karton heraus, auf dessen Deckel »2000« stand.
Sie setzte sich, stellte den Karton zwischen ihren Beinen ab und öffnete ihn. Dabei stieß sie einen langen Seufzer aus. Der Karton war voller Fotos. Schon beim Anblick des ersten brach Audrey in Tränen aus.
Sie hatte ihren Sohn Eugene Anfang 1992 geboren, genau neun Monate nach dem 14. April des Vorjahres – dem Tag, an dem jener unglückliche Wachmann durch Audreys Schuld und die ihrer Freunde in Harvard Hall verbrannt war. Audreys Gynäkologe hatte ihr gesagt, dass sie Eugene wahrscheinlich genau an jenem Tag empfangen habe. Manchmal dachte Audrey, sie hätte erkennen müssen, dass dies ein Zeichen, eine Warnung gewesen war. Doch hätte sie dann irgendetwas anders gemacht?
Der Vater des Kindes war Zach. Er hatte Audrey schleu-nigst verlassen, als sie es ihm gesagt hatte. »Ich will für niemanden die Verantwortung tragen.« So hatte er sich von ihr verabschiedet. Es war sehr schwierig gewesen, weiterzustudie-ren und sich zugleich um Eugene zu kümmern. Niemand hatte ihr geholfen: Auch Leo hatte sich ihr entfremdet, und Audreys Mutter starb, ohne ihren einzigen Enkel – das »Kind der Sünde«, wie sie ihn genannt hatte – je gesehen zu haben. Audrey hatte ihn allein aufgezogen, voller Liebe und Hingabe, hatte es zu etwas gebracht und zugleich Eugene eine glückliche Kindheit geschenkt. Nichts, was sie im Leben erreicht hatte, erfüllte sie so mit Stolz wie dies.
Eine Handvoll Fotos in ähnlichen Kartons waren alles, was ihr von ihrem geliebten Sohn geblieben war. Er war an einem strahlenden Sommernachmittag des Jahres 2000
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