616 - Die Hoelle ist ueberall
Er lief durch die Gänge und fand wieder hinaus in den äußeren Innenhof. Dort zwang eine geheimnisvolle Kraft ihn, vor dem Lagerfeuer in der Mit-te des Hofes stehen zu bleiben. Im Feuer sah er unerwartet etwas Schreckliches. Und ich glaube, du weißt, was es war.«
»Augen …«, stammelte Cloister.
»Augen, ein Gesicht, das ihn erstarren ließ. Er blieb wie angewurzelt stehen und konnte nicht verhindern, dass sie ihn fingen. Zum Glück kam er mit dem Leben davon.«
»Dürfte ich Verbindung zu Pater Horace aufnehmen?«
»Es tut mir leid, aber er starb kurz darauf. Ein plötzlicher Herzinfarkt.«
»Oh …«
»Ich weiß, was du denkst.«
»Und irre ich mich?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte sein Tod etwas mit dem Feuerwesen zu tun, vielleicht auch nicht. Bruder Giulio hat diese Augen auch gesehen, und er hat die Hundert hinter sich gelassen. Wahrscheinlich war es irgendein … Zufall.«
»Ja, das ist wohl die logischste Erklärung. Allerdings bin ich verwirrt.«
Der Kardinal beugte sich über den Tisch und legte Albert die Hand auf die Schulter. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Albert nicht in diese Angelegenheit hineingezogen worden wäre. Aber das war nicht seine Entscheidung gewesen.
»Ich will dich bei deinen Nachforschungen nicht mit noch mehr Einzelheiten belasten, aber ich muss dir noch einen Ko-dex zeigen. Deshalb sind wir hier. Ich weiß, dass Bruder Giu-lio dir von ihm erzählt hat.«
»Er hat ihn nur kurz erwähnt, aber er hat mir nicht gesagt, worum es in dem Buch geht.«
»Gleich sollst du deine Antwort haben. Komm mit.«
Die beiden Männer verließen die Cafeteria und gingen zu-rück zum Aufzug. Franzik zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Kabinentableau. Dann hielt er sei-nen Ausweis vor das Lesegerät und drückte auf den Knopf für das 4. Untergeschoss. Nur so gelangte man in den geschlossenen Bereich der Bibliothek, in das unterirdische Gewölbe des vatikanischen Geheimarchivs. Externen Nutzern des Archivs war dieser Bereich verschlossen. Zugang hatten nur einige Geistliche, die zum Archiv gehörten, sowie die Spezialisten für die Restaurierung und Katalogisierung der Bestände. Sie alle mussten einen Vertrag mit einer Geheimhaltungsklausel unterzeichnen, wie bei einem Hightech-Konzern oder einer Militärbehörde.
Der Kodex, den Kardinal Franzik und Pater Cloister einse-hen wollten, war einer dieser historischen Geheimtexte, einer der bestürzendsten und fesselndsten des ganzen Archivio. Es handelte sich um wenig mehr als dreißig etwa zwanzig mal dreißig Zentimeter große Papyrusseiten in einem Lederein-band, um den ein ledernes Band geschlungen war. Franzik bat Cloister, Handschuhe anzuziehen. Das uralte Buch lag auf einem Spezialtisch für Restaurierungen. Das Licht im Raum war kalt und nicht sehr hell; Luftfeuchtigkeit und Raumtem-peratur wurden streng kontrolliert. Die beiden Männer setzten sich vor das Buch, das auf der richtigen Seite aufgeschlagen war, auf zwei hohe Hocker.
»Es ist nur ein Fragment«, sagte Franzik und deutete auf die brüchige Seite. »Was ich dir zeigen möchte, befindet sich in diesem Kodex. Aufgrund des Inhalts, des Stils und der Handschrift hat man ihn auf das zweite Jahrhundert unserer Zeit-rechnung datiert. Der Radiokarbontest bestätigt das. Wir wis-sen, dass er aus Ägypten oder Palästina stammt, weil es ein griechischer Text und das Material Papyrus ist. Sonst wissen wir rein gar nichts darüber. Weder, wer der Autor oder die Autoren waren, noch, auf welche Quellen sie sich stützten, oder welchen Zweck sie verfolgten. Man weiß nicht einmal, wie der Kodex in die Bibliothek von San Giovanni in Latera-no gelangt war, ehe er hierher ins Archiv kam. Aus Zufall ist er während der Plünderungen durch Napoleon nicht verlorengegangen wie so viele andere unersetzliche Texte. Aber das Wichtigste ist … Schau, hier ist es. Sei vorsichtig mit dem Papyrus. Berühre die Seite möglichst nicht.«
Cloister beugte sich über den Tisch, auf dem der Kodex lag wie die Trümmer eines Schiffbruchs. Der Kardinal deutete auf einen ein wenig verblassten, doch lesbaren Absatz. Darin ging es um Jesu Versuchung in der Wüste.
»DIE HÖLLE IST ÜBERALL.«
Der Satz sprang den Jesuiten an wie ein tollwütiger Hund. Er sah seinen Vorgesetzten an. Es gab da einige miteinander verflochtene Fäden. Doch es schienen weniger Schicksalsfä-den zu sein als vielmehr ein dicht gewebtes Spinnennetz: ge-fährlich, erschütternd, bestürzend.
Weitere Kostenlose Bücher