616 - Die Hoelle ist ueberall
verschwunden. Sie waren in den Vergnügungspark auf Coney Island gefahren, um dort gemeinsam den Tag zu verbringen, und Eugene war einfach verschwunden. Deshalb war Audrey so betroffen gewesen über das Foto auf Michaels Schreibtisch, auf dem der Physiker mit Frau und Sohn abgebildet war – ebenfalls auf Coney Island. Die Polizei hatte nie in Erfahrung gebracht, was Eugene zugestoßen war. Man wusste nicht einmal mit Sicherheit, ob er tot war oder noch lebte.
Allmählich weinte Audrey nicht mehr so heftig. Hin und wieder schluchzte sie auf. Draußen war der Regen stärker geworden. Dicke Tropfen schlugen mit Wucht gegen die Hauswand. Die Autos, die in der Commonwealth Avenue im Stau standen, hupten immer wieder. Dann übertönte die Si-rene eines sich nähernden Krankenwagens das Hupkonzert.
Als die Polizei den Fall Eugene zu den Akten legte, hatte Audrey nicht aufgeben wollen und einen Privatdetektiv damit beauftragt, die Nachforschungen fortzusetzen. Je besser sie verdiente, desto mehr Geld hatte sie in die Suche nach ihrem Sohn gesteckt. Zurzeit arbeiteten drei Ermittler in verschiedenen Bundesstaaten für sie. Seit Jahren schickten sie ihr jeden Monat einen Bericht mit dem ewig gleichen Tenor: »Es sind keine signifikanten Fortschritte zu verzeichnen«, oder etwas ähnlich Entmutigendes. Doch Audrey hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Noch glaubte sie, zwang sich zu glauben, dass Eugene lebte, irgendwo. Wenn sie es am wenigsten erwartete, würde einer der Ermittler sie anrufen und ihr berichten, dass er ihn schließlich doch noch gefunden habe. Lebendig. Audrey würde zu ihm fahren, wo er sich auch befinden mochte, und ihn zu sich nach Hause holen. Und dann würde sie ihm alle seine Geschenke auf einmal geben; die Geschenke, die sie Eugene jedes Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag kaufte, seit er verschwunden war. Sie bewahrte sie in einem Schrank auf, den sie nur öffnete, um neue Geschenke hineinzulegen. Staub legte sich auf die Schleifen und das farbenfrohe Geschenkpapier, die auf Eugene warteten.
Audrey war eine starke Frau. Sie musste es sein. Doch nun stand sie kurz davor aufzugeben. Und ausgerechnet jetzt war dieser Daniel aufgetaucht und redete von »der Wahrheit über Eugene«. Einer Wahrheit, nach der Audrey seit fünf Jahren suchte, ohne eine Spur gefunden zu haben … Konnte es sein? Konnte es möglich sein, dass Daniel ihr sagen könnte, was aus ihrem Sohn geworden war? Und die wichtigste aller Fragen, jene, die Audrey sich kaum zu stellen getraute: Lebte Eugene?
»Das kann er nicht wissen.«
Erneut sagte sie sich, Daniel sei eben ein Telepath und besitze zudem die Gabe der Fernwahrnehmung. Doch Telepa-then wissen nicht alles. Niemand kennt die Vergangenheit und die Zukunft – niemand außer Gott und dem Teufel, wie Audrey zu Daniel gesagt hatte. Aber wenn er nun tatsächlich besessen war, wie die Oberin vermutete? Dann hätte der Teu-fel aus ihm gesprochen, dann konnte Daniel wissen, was sonst niemand wissen konnte … In der Hand hielt Audrey ein Foto von Eugene, das letzte, das sie von ihm aufgenommen hatte. Ihr Sohn lächelte. Neben ihm stand ein bizarr gekleideter Clown mit weiß-rot geschminktem Gesicht und riesigen Handschuhen. An einem der Handschuhe war ein beinahe unsichtbarer Nylonfaden befestigt, an dessen Ende eine Trau-be gelber Luftballons schwebte. Und Daniel hatte im Schlaf von gelben Luftballons geredet …
Dennoch mochte Audrey noch nicht einräumen, dass Da-niel besessen sein könnte. Sie benötigte zuerst unwiderlegbare Beweise dafür, die den streng wissenschaftlichen, den Psychia-terinnenanteil in ihr überzeugen konnten. Wenn er der Teu-fel war, wie er behauptete, sollte er es beweisen. Dann würde sie ihm auch glauben.
Die Sirene des Krankenwagens ertönte erneut, diesmal viel näher. Audrey wischte sich die Nase am Handrücken ab. Sie schluchzte nicht mehr und war ruhiger geworden. Manchmal sind Tränen hilfreich, auch wenn der Trost nie lange anhält und sie stets einen salzigen Nachgeschmack auf der Seele hinterlassen.
Von der Straße her ertönte wieder wütendes Gehupe und vermischte sich mit der durchdringenden Sirene des Krankenwagens, der wohl ebenfalls im Stau festsaß. Audrey stand auf und ging zu einem der Fenster, ohne das Foto von Euge-ne loszulassen. Der Krankenwagen steckte tatsächlich an einer Seitenstraße der Commonwealth Avenue fest, sträflich behindert. Er würde es schwer haben, von dort fortzukommen. Die Fahrzeuge um ihn herum hatten
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