616 - Die Hoelle ist ueberall
Audrey?«
Aus ihren Kleidern rann Wasser auf den Boden. Sie sah aus wie eine Vogelscheuche, und sie hatte unverkennbar geweint.
»Bitte, komm rein.« Er zog sie herein und schloss die Tür. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Audrey flüsterte: »Nimm mich in den Arm …«
Joseph schloss sie in die Arme. Sein T-Shirt war rasch ebenso nass wie ihre Kleidung, doch der Feuerwehrmann lockerte seine Umarmung nicht. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der so liebes-und trostbedürftig war wie Audrey in diesem Augenblick. Noch nie war ihm jemand so schutzlos erschienen. Und selbst ein einfacher Mann wie er ohne jede psychologische Vorbildung konnte sehen, dass Audreys Schmerz tief ging, weit über die Geschehnisse dieses Abends hinaus, gleichgültig, was gerade geschehen sein mochte. Die manchmal kurz angebundene, stets aber professionelle Haltung, die Audrey seit ihrer ersten Begegnung an den Tag ge-legt hatte, hatte Risse bekommen. Joseph sah eine ganz neue Audrey vor sich, zerbrechlich und schutzlos. Und er wollte ihr helfen. Joseph war auf der Welt, um anderen zu helfen. Deshalb war er Feuerwehrmann geworden.
»Es tut mir leid«, sagte Audrey unter Schluchzern, die sie sich bemühte, zu unterdrücken. »Ich hätte nicht herkommen sollen.«
Joseph schüttelte den Kopf. Es gab nichts, wofür sie sich hätte entschuldigen müssen. Sanft löste er die Umarmung und legte Audrey die Hände auf die Schultern, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Alles wird gut«, versicherte er ihr.
Genau das hatte Audrey Daniel in der letzten Sitzung ge-sagt, just bevor dessen düstere Seite zutage getreten war, vor dem schrecklichen, absurden Tod von Michaels Frau.
»Nein, das stimmt nicht. Nichts wird je gut, nichts wird je, wie wir es uns wünschen.«
Audreys Stimme klang schroff. Sie zwang sich, nicht mehr zu weinen, doch noch immer lag dieser nicht auslotbare Schmerz in ihrem Blick, der jetzt unfähig war, zu lügen oder etwas zu verbergen. Joseph strich Audrey die nassen Haare aus dem Gesicht. Dann streichelte er, ohne darüber nachzudenken, ihre Wange. Er bemerkte, dass sie instinktiv zurückzuckte, und zog sofort seine Hand fort.
»Entschuldige. Ich …«
Audrey legte Joseph zwei Finger auf den Mund und ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Dann legte sie die Hand des Feuerwehrmanns erneut an ihre Wange. Joseph sah, wie sie die Augen schloss und ihr Gesicht gegen seine Hand drückte. In seinem ganzen Leben hatte er keine Frau gesehen, die so schön war wie Audrey, wenn sie ihre Abwehrmechanismen aufgab. Er vergrub die Hände in ihren nassen Haaren, bis er ihren Nacken fand. Die unendlich weiche Haut dort war glü-hend heiß.
»Ich werde dich jetzt küssen«, sagte Joseph sehr ernst.
14
Boston
Audrey wies Josephs Anruf auf ihrem Handy ab. Der Feuerwehrmann hatte in den vergangenen Tagen immer wieder versucht, sie zu erreichen. Der Anrufbeantworter in Audreys Wohnung war voller Nachrichten von ihm, und ihre Sekretä-rin wusste schon nicht mehr, wie sie ihm erklären sollte, dass ihre Chefin nun schon seit Tagen nicht mehr in die Praxis gekommen war. Audrey ging Joseph aus dem Weg, das muss-te ihm doch mittlerweile klar sein. Doch offenbar wollte er nicht aufgeben. Im Augenblick beschränkte er sich auf seine beharrlichen Anrufe. Noch war er weder bei Audrey zu Hau-se noch im Altenheim erschienen, doch früher oder später würde er das tun. Joseph war ein guter Mensch und machte sich Sorgen um sie. Wie auch nicht, nachdem sie in diesem Zustand zu ihm nach Hause gekommen war, völlig durchnässt und verstört?
Audrey war dabei einem Impuls gefolgt. Sie hatte den ur-sprünglichsten Trost gesucht, den es gab: die Umarmung ei-nes anderen Menschen. Sie war verletzt gewesen und hatte sich schutzlos gefühlt, und in dieser Stimmung hatte sie einen Fehler begangen, den sie nun zu korrigieren versuchte. Am Ende waren sie und Joseph miteinander ins Bett gegangen, was Audrey sich weder gewünscht noch beabsichtigt hatte, als sie den Feuerwehrmann zu Hause aufgesucht hatte. Es war das erste Mal, dass sie mit einem Mann zusammen gewesen war, seit … sie wusste nicht mehr, seit wann. Joseph war zärtlich und liebevoll gewesen, und das machte alles noch schlimmer und erschwerte Audrey, was sie tun musste. Sie wollte keine irgendwie geartete Beziehung zu irgendjemandem beginnen. Nicht einmal zu einem so bezaubernden Mann wie Joseph. Sie wollte ihre gesamte Energie darauf konzentrieren, ihren Sohn Eugene wiederzufinden. Nur dies
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