616 - Die Hoelle ist ueberall
Cloister befand sich auf einer Suche, deren Spuren sich in der Vergangenheit verloren. Noch immer wusste er nicht, wohin die Suche ihn füh-ren mochte, auch wenn sein Verstand ausschloss, dass es sich um zufällige Übereinstimmungen handelte. Es gibt Schatten, die so dicht sind, dass sie nicht verschwinden, sondern sich verdichten, wenn Licht auf sie fällt.
»Und das ist noch nicht alles, lieber Albert«, fügte Franzik hinzu. Äußerst vorsichtig blätterte er mehrere Seiten um. »Ein wenig weiter unten ist die Rede von Jesu letztem Schrei am Kreuz: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‹ Und dann heißt es, nur wer dieses Rätsel lösen könne, werde die Wahrheit herausfinden. Wenn das stimmt, dann liegt da der Schlüssel. Dessen bin ich mir sicher, auch wenn ich nicht weiß, welche Tür er öffnen könnte.«
»Die Tür zur Wahrheit …«, murmelte Cloister. Es war keine Antwort auf die Fragen des Kardinals.
»Die Tür zur Wahrheit, ja. Eine Wahrheit, die du wirst finden müssen. Ich kann mir niemanden vorstellen, der dazu besser befähigt wäre. Und außerdem …«
Der Kardinal hielt inne. Cloister konnte seinen Blick nicht deuten.
»Außerdem …?«, hakte er nach.
»Da ist etwas, was … Da ist eine gewisse Logik hinter all dem. Es ist, als ob … etwas dich suchen würde. Ich hoffe, ich rede jetzt keinen Unsinn, und ich will dich auch nicht erschrecken. Aber das sagt mir mein Gefühl. Was meinst du? Glaubst du, das sind die Fieberfantasien eines Verstandes, des-sen letzte klare Jahre angebrochen sind?«
»Ganz und gar nicht, Monsignore. Ich bekomme allmäh-lich das gleiche Gefühl. Irgendetwas leitet mich. Aber wa-rum?«
»Ich glaube, diese Frage kann dir niemand beantworten. Außer dir selbst. Mit Gottes Hilfe natürlich. Habe Mut, Al-bert.«
»Ich hoffe, ich bin der Aufgabe würdig. Ich sehne mich mit ganzem Herzen und aus tiefster Seele danach, diese Wahrheit zu enthüllen.«
13
Boston
Kaum hatte Mutter Victoria das Zimmer verlassen, schlief Daniel ein. Er atmete mühsam, stöhnte immer wieder, und ab und zu zuckten seine Lider und seine Gliedmaßen. Audrey machte es sich auf dem Stuhl bequem, auf dem die Nonne gesessen hatte. Lange blickte sie Daniel und seine Rose an, bis der Schlaf auch sie übermannte.
Als sie wieder erwachte, war sie verstört, ohne dass es dafür den geringsten Anlass gegeben hätte. Falls sie einen Alptraum gehabt hatte, so erinnerte sie sich nicht daran. Sie vergewisserte sich, dass Daniel nach wie vor schlief, und seufzte. Sie fand nicht mehr zu ihrem seelischen Gleichgewicht. Vielleicht ahnten Audreys Sinne etwas, was ihrem Verstand entging. Bei diesem verstörenden Gedanken stand sie auf. Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Ihr fiel ein, dass Joseph an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, das Gleiche getan hatte. Wie fern kam ihr diese erste Begegnung nun vor …
»Lichter.«
Daniel sprach im Schlaf. Audrey trat an sein Bett und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Schsch. Ganz ruhig, Daniel.«
»Gelbe … Luftballons. Da sind gelbe Luftballons. Zuckerwatte und ein … Kind!« Daniel lächelte im Schlaf. Es war ein sanftes, kindliches Lächeln. Unvermittelt verwandelte es sich in eine Grimasse des Entsetzens. »Nein … geh nicht … Nein … NEIIIN!«
Der alte Gärtner erwachte. Mit weit aufgerissenen, er-schrockenen Augen blickte er in Audreys Richtung, ohne sie zu sehen. Die Psychiaterin war bestürzt. Sie erinnerte sich an eine Szene aus ihrer Vergangenheit mit gelben Luftballons und Zuckerwatte … und einem kleinen Kind. Sie hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Dann wurde ihr bewusst, dass Daniel gesagt hatte: »Geh nicht.« Hatte er das Kind gemeint? Mit beiden Händen packte sie den Alten und schüttelte ihn rücksichtslos.
»Sprich weiter, Daniel, bitte. Sprich!«
Sein einfältiger Gesichtsausdruck war zurückgekehrt. Er hatte keine Ahnung, was Audrey meinte. Verzweifelt wurde ihr klar, dass sie hier machtlos war.
»Au-drey, du tust mir … weh.« Sie ließ ihn los. Ihre zusammengekrümmten Finger hinterließen rote Flecken auf Daniels Armen. »Hab ich … geträumt?«
»Erinnerst du dich an deinen Traum?«
Die Frage war müßig, und Audrey wusste es. Daniel schüt-telte den Kopf.
»Bist du … böse auf mich?«
Mit aller Macht versuchte Audrey, sich zu beruhigen und aufrichtig zu wirken.
»Ich bin nicht böse. Keine Angst, Daniel. Alles wird gut. Das verspreche ich dir.«
»Glaubst du … das
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