616 - Die Hoelle ist ueberall
wirklich, Audrey?«
»Sicher.«
Daniel lächelte. Doch sein Lächeln wirkte unecht. Audreys Herz schlug schneller.
»Glaubst du wirklich, dass alles gut wird, Audrey? Glaubst … du … das … wirklich?«
Die Grimasse, die vorgab, ein Lächeln zu sein, wich un-heilvollem Gelächter. Audrey war auf ihn hereingefallen. Da sprach wieder jener andere Daniel. Vielleicht war er es die ganze Zeit schon gewesen. Woher sollte sie das wissen?
»Du schon wieder«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Was willst du von mir?«
»Oh, das wirst du zur rechten Zeit erfahren. Im Augenblick wollen wir uns auf die Frage beschränken, was du von mir willst?«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Ich habe es dir neulich schon gesagt, Audrey. Ich weiß, was du wissen möchtest.«
»Und was möchte ich wissen?«, schrie Audrey wütend.
Daniel war aufgestanden, ging nun durchs Zimmer und dozierte dabei wie ein Lehrer im Klassenraum. Audrey war wieder ans Fenster gegangen, um ihm so fern wie möglich zu sein.
»Die Wahrheit über Eugene, Audrey.«
Bei diesem Namen durchfuhr sie ein unerträglicher Schmerz. Als sie wieder sprechen konnte, klang ihre Stimme unsicher und schrill.
»Du kannst nicht wissen, was Eugene passiert ist.«
Audreys Logik ließ nur die Möglichkeit zu, dass Daniel ein Telepath mit Fernwahrnehmung war, der sich in Daniels düs-terer Persönlichkeit manifestierte. Somit konnte er über sie oder ihre Vergangenheit nur das wissen, was sie selbst wusste oder woran sie sich erinnerte. Mehr nicht. Die zwangsläufige Schlussfolgerung aus dieser Annahme lautete, dass Daniel zwar wissen konnte, wer Eugene war, doch nicht, was mit ihm geschehen war.
»Du glaubst, dass meine Kräfte«, sagte der Alte mit gespielt dümmlicher Miene, Mitleid heuchelnd, »mir nicht erlauben, zu wissen, was du nicht weißt, nicht wahr? … Du irrst dich, Audrey.«
»Nur Gott kann wissen, was du behauptest zu wissen … Nur Gott und der Teufel.«
»Und was meinst du, wer ich bin?«
»Gott kannst du nicht sein, und der Teufel bist du auch nicht. Und deshalb glaube ich dir nicht.«
»Selig sind die Gläubigen, denn sie sind einzigartig! Du dagegen gehörst zur riesigen mittelmäßigen Gruppe der Un-gläubigen. Ihr müsst sehen, um zu glauben.«
Daniels Persönlichkeitsveränderungen, das ausgefeilte Mie-nenspiel seines anderen Selbst, die parodistischen Anspielun-gen auf religiöse Zitate und Ereignisse überraschten Audrey kaum noch. Diesmal jedoch fiel Audrey etwas Neues auf, und das beunruhigte sie. Sie nahm ein Verlangen von geradezu animalischer Intensität wahr. Dieser Daniel wollte ihr zeigen, dass er nicht log. Die Psychiaterin war sicher, dass seine Ver-sprechungen gelogen waren. Deshalb sagte sie: »Beweise mir, dass du die Wahrheit sagst, dann glaube ich dir.«
Daniel atmete tief ein. Audrey meinte zu sehen, dass Daniels Gesicht sich verwandelte und seine Augen ganz kurz zu den furchterregenden Augen eines anderen Wesens wurden. Dann packte er ihr linkes Handgelenk. Das kam so unerwartet, dass es Audrey gar nicht in den Sinn kam, sich zu widersetzen. Mit dem rechten Zeigefinger schrieb er Buchstabe für Buchstabe ein Wort auf Audreys Handfläche.
Es war ein Name: »Karen.«
Schließlich schloss er Audreys Hand und sagte: »Worum du gebeten hast, ist vollbracht … Und jetzt geh. Du hast doch gehört, was die Nonne gesagt hat: Daniel braucht Ru-he.«
Audrey legte den Weg zum Auto im Eilschritt zurück. Sie stieg ein und aktivierte die Zentralverriegelung. Trotzdem fühlte sie sich kein bisschen sicherer. Sie konnte sich nicht erklären, was ihr solche Angst einflößte, doch sie empfand … Sie fühlte sich von innen her beschmutzt.
Sie betrachtete die Hand, auf die Daniel jenen Namen geschrieben hatte. Halb erwartete sie, etwas Ungewöhnliches darauf zu erblicken, wenn sie auch nicht wusste, was. Doch ihre Hand sah aus wie immer. Das hatte sie sich alles nur eingebildet, sagte sie sich immer wieder in dem Versuch, die Stimme zum Schweigen zu bringen, die sie beharrlich fragte: »Und wie erklärst du dir das mit Eugene?«
»Eugene …«
Daniel war ein Telepath. Das war die Erklärung. Er war in ihr Gehirn eingedrungen – bei diesem Gedanken wurde Aud-rey beinahe übel – und hatte in ihrem Gedächtnis ihre Erinnerungen an Eugene gefunden, ebenso wie die an die »Statue der drei Lügen« und jene Nacht in Harvard. Seine Behauptung, er sei der Teufel, und das Schreiben jenes Namens auf ihre Handfläche waren ein
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