616 - Die Hoelle ist ueberall
beitragen konnte, Daniel vom Bösen zu befreien. Angesichts dieser Haltung hatte Audrey ein anderes Argument ins Feld geführt: Die Gebrechlichkeit der Oberin würde Daniel nicht nur nicht helfen, sondern könnte das Wesen, von dem er besessen war, womöglich noch stärken und so eine Aus-treibung verhindern. Schließlich gab Mutter Victoria doch nach – sehr zu Audreys Erleichterung, obwohl ein egoisti-scher Teil von ihr sich das Gegenteil gewünscht hätte.
Man würde den Exorzismus in Daniels Zimmer vornehmen. Das war der diskreteste Ort, abgesehen vom Therapieraum, den man sofort verworfen hatte. Sowohl Mutter Victoria als auch Audrey hatten den Eindruck, dass der Therapieraum ein »günstiges Terrain« für Gottes Widersacher sei.
Ehe Audrey zu Daniel ging, sah sie in Mutter Victorias Bü-ro vorbei. Die Unterhaltung war kurz. Sie begann mit einer Bitte der Oberin: »Geh mit Daniel. Er ist sehr verängstigt, und Pater Gómez lässt mich nicht zu ihm. Wir werden in der Kapelle für ihn beten.« Mutter Victoria schloss bekümmert: »Gott schütze euch.«
Ein ungewohnter Weihrauchduft mischte sich in den üblichen Gestank auf dem Gang zu Daniels Zimmer. Vor der Tür erwartete Audrey der Exorzist, gekleidet für den Kampf. Denn darum handelte es sich, um einen Kampf. Über dem Habit trug er das zeremonielle Gewand aus weißem Leinen, den Chorrock, und um den Hals hing ihm eine violette Stola. Er sprach sie an, und seine Worte waren unverblümt.
»Ms Barrett, ich bin Pater Gómez. Auch wenn die Kirche heute empfiehlt, dass bei Exorzismen ein Psychiater zugegen ist, werden Ihnen Ihre wissenschaftlichen Kenntnisse für sich genommen nichts nützen. Seien Sie also bitte so gut, nur zu beobachten und sich zu keinem Zeitpunkt einzumischen, es sei denn, ich fordere Sie dazu auf. Habe ich mich klar ausge-drückt?«
»Selbstverständlich.«
Vielleicht war es der Einfluss des Kinos, doch Audrey hatte mit einem älteren, weiseren Priester gerechnet, dessen durchdringender Blick und gestrenge Miene sich in tausend Schlachten gegen den Fürsten der Finsternis herausgebildet hätten. Unwillkürlich war sie enttäuscht, und zudem besorgt. Pater Gómez war ein junger Mann puertoricanischer Abstammung. Seine affektierte Stimme und die verächtliche Ein-gangsbemerkung offenbarten einen beunruhigenden Hochmut. Ein Exorzismus ist ein gnadenloser Kampf zwischen Gut und Böse, ein Niemandsland, in dem die Kräfte der beiden Parteien so ausgeglichen sind wie sonst nie. Um die Schlacht zu gewinnen, braucht man Glauben und Ausdauer. Aber auch Demut. Ein Priester ohne Demut geht dem Teufel unter Umständen leicht in die Falle. Es ist Gott, der siegreich aus einem Exorzismus hervorgeht, nicht der Exorzist, der nur sein Werkzeug ist. Hoffentlich würde Pater Gómez dies nicht vergessen.
»Ist das Ihr erster Exorzismus?«
Audrey musste das fragen. Zu viel stand auf dem Spiel.
»Selbstverständlich nicht! Natürlich ist das nicht mein erster Exorzismus!«
»Dann bin ich beruhigt. Für mich ist es nämlich der erste.«
Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu und betrat dann ohne ein weiteres Wort Daniels Zimmer. Dort war der Weihrauchgeruch beinahe erstickend. Daniel saß auf dem Bett. Neben ihn hatte der Priester das Kruzifix gelegt, das normalerweise an der Wand hing. Audrey entdeckte noch eine weitere Veränderung: Auf den Nachttisch, auf dem normalerweise eine Lampe stand, hatte Pater Gómez ein Bild der Heiligen Jungfrau sowie zwei kleine Gefäße gestellt, eines mit Weihwasser, das andere mit Salz.
»Au-drey! Ich habe … Angst!«
»Bleib sitzen«, befahl ihm der Priester, als er sah, dass der alte Mann aufstehen wollte.
»Es ist nicht nötig, dass Sie in diesem Ton mit ihm reden«, sagte Audrey. »Sehen Sie nicht, dass er große Angst hat? Kei-ne Sorge, Daniel. Ich bin hier. Dir wird nichts passieren.«
Der Exorzist zog eine wütende Grimasse.
»Ms Barrett, ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen sich darauf beschränken, das zu tun, was ich Ihnen sage. Wenn Ihnen das nicht gefällt, wird es besser sein, Sie gehen jetzt und nehmen nicht am Ritual teil. Man darf nicht nachgiebig sein gegenüber Satan.«
Audrey dachte: Das ist nicht Satan, du Idiot. Das ist bloß ein geistig behinderter alter Mann, der halbtot vor Angst ist. Aber sie sagte nur: »Ich werde tun, was Sie mir sagen.«
»Sehr gut.« Pater Gómez’ Stimme klang schrill vor Befrie-digung. »Sie können damit anfangen, dass Sie Daniel die hier anlegen.«
Als
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