616 - Die Hoelle ist ueberall
Audrey sah, was der Exorzist aus seinem Handkoffer holte, musste sie an sich halten.
»Ich … will keine … Rie-men.«
Die Angst in Daniels Blick brach Audrey das Herz.
»Daniel, vertraust du mir?«
»Ja.«
»Glaubst du mir dann, wenn ich dir sage, dass es sein muss, dass ich dir die Riemen anlege?« Daniel nickte. »Ich werde sie nicht allzu fest ziehen.«
»Ziehen Sie sie so fest wie möglich.«
Zum dritten Mal sprach Audrey nicht aus, was sie dachte. Doch der hasserfüllte Blick, den sie dem Exorzisten zuwarf, sagte alles.
»Ich muss tun, was Pater Gómez sagt. Verstehst du, Da-niel?«
»Ich … vertraue … dir.«
Audrey folgte den Anweisungen des Exorzisten und fesselte Daniel mit den Riemen ans Bett: eine Hand band sie ans Kopfende und eine ans Fußende. So hatte der alte Mann die Arme ausgestreckt wie Christus am Kreuz. Bei diesem mitleiderregenden Anblick nickte Pater Gómez zufrieden. Dann durchsuchte er erneut seinen Koffer und entnahm ihm diesmal eine kleine digitale Videokamera.
»Wollen Sie den Exorzismus filmen?«
Das traf Audrey unvorbereitet. Sie hatte sich damit abge-funden, dass im Verlauf des Rituals Geschehnisse aus ihrer Vergangenheit ans Licht kommen könnten, die sie lieber ge-heim gehalten hätte. Doch ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass sie auf Video festgehalten würden.
»Ich nehme alle meine Exorzismen auf. Es ist sogar vorgeschrieben, wenn die technischen Mittel es zulassen.«
»Halten Sie das wirklich für notwendig, Pater Gómez?«
In seiner Antwort bemerkte sie erneut diesen kränkenden, gefährlichen Hochmut.
»Das Festhalten des Exorzismus in Bild und Ton ist im einundzwanzigsten Jahrhundert gängige Praxis. Stört es Sie?«
Natürlich stört es mich, du eingebildeter Gockel!
»Nein. Es stört mich nicht.«
Pater Gómez stellte die Digitalkamera auf eine Kommode, die an der Wand stand, zu der Daniel blickte. Er stellte das Objektiv ein, betätigte den Aufnahmeknopf und kam zurück.
»Fangen wir endlich an. Die Kamera läuft. Sie können still für Daniel beten, aber ich sage es Ihnen noch einmal: Mischen Sie sich nicht ein, es sei denn, ich befehle es Ihnen ausdrücklich.«
»In Ordnung.«
Der Exorzist stellte sich links neben Daniel und bedeutete Audrey, sich auf dessen andere Seite zu stellen. Sie sah, wie Pater Gómez in die Kamera blickte. Er trug eine dümmliche Selbstgefälligkeit zur Schau und richtete sich sogar die Haare, als bereite er sich auf einen Schönheitswettbewerb vor statt auf einen Kampf gegen den Teufel. Schließlich zog er das Buch mit dem Exorzismusritual aus der Tasche, schloss die Augen und betete still. Dann bekreuzigte er sich, forderte Audrey auf, es ihm gleichzutun, und sagte: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … Sie müssen ›Amen‹ antworten.«
»Amen.«
Der Exorzist breitete die Arme aus und fuhr fort: »Gott, der allmächtige Vater, der will, dass alle Menschen gerettet werden, sei mit euch allen.« An Audrey gewandt: »Und mit deinem Geiste.«
»Und mit deinem Geiste.«
»Daniel, ich bitte dich um deine Erlaubnis, die Dämonen auszutreiben, die dich quälen. Gewährst du sie mir?«
Daniel wusste nicht, was er antworten sollte. Er sah zu Audrey, die nickte und flüsterte: »Sag ja.«
»Ja … ja.«
Nun nahm der Exorzist eine Handvoll Salz und warf es in den Behälter mit dem Weihwasser.
»Wir bitten dich, allmächtiger Gott, segne in deiner Güte dieses Salz, das du geschaffen hast. Du hast dem Propheten Elischa aufgetragen, Salz in das ungesunde Wasser zu schütten, um es gesund zu machen. Gewähre uns, Herr, die Gnade, dass wir, wenn wir mit diesem mit Salz vermischten Wasser be-sprengt werden, von den Angriffen des Widersachers befreit werden und die Gegenwart des Heiligen Geistes uns stets schützen möge. Durch Jesus Christus, unseren Herrn …«
Pater Gómez sah wieder zu Audrey. Doch sie antwortete nicht »Amen«. Sie war in Gedanken versunken.
»Antworten Sie ›Amen‹!«, rief Pater Gómez.
»Amen.«
Aufgebracht begann der Exorzist mit der Fürbitte. Die Wut in seiner Stimme widersprach den sanften Worten des Gebets.
»Geliebte Brüder, lasst uns Gott inständig um Erbarmen anflehen, dass er durch die Fürsprache aller Heiligen das Ge-bet seiner Kirche für unseren Bruder Daniel, der schwer lei-det, gütig erhören möge.«
Der alte Mann litt, o ja. Doch dem Teufel in seinem Inneren schien das Ritual nicht das Geringste auszumachen. Audrey hatte bisher nicht einmal seine
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