616 - Die Hoelle ist ueberall
und die Vorfälle korrekt analysieren zu können. Unkontrollierte Sinneseindrücke und wilde Zukunftsprognosen konnten einem üble Streiche spielen und auch das brillanteste Urteilsvermögen trüben. Cloister war Theologe, aber auch Wissenschaftler. Er hatte viel scheinbar Unerklärliches gesehen, hatte den bitteren Geschmack der Angst gekostet. Er hatte sich Ängsten wie Gefahren gestellt, für Gott wie auch für seine Kollegen in der Kongregation. Er wusste, dass er die Fakten so leidenschaftslos wie ein Computer analysieren musste. Doch das war nicht immer leicht, insbesondere nach den Enthüllungen des Präfekten der Wölfe Gottes sowie des alten Mönchs in Padua. Und der Ko-dex aus dem Geheimarchiv wirkte auf sein Gehirn wie ein Hammer, der unablässig auf den Amboss einschlägt. So vergaß er keinen Augenblick lang, was auf den brüchigen Papyrusseiten stand. Jene verblasste Tinte, jene wenigen erschütternden Zeilen konnten zu einem ganz neuen Verständnis vieler Punkte in der Geschichte der Christenheit führen.
Cloister sah aus dem Seitenfenster des Taxis. Er hob die Augenbrauen und dachte, wie schnell einem das Leben doch zwischen den Fingern verrann. Und er musste wieder daran denken, dass dem, der das Rätsel von Jesu letztem Satz am Kreuz löste, die Wahrheit verheißen wurde. An einer Ampel fiel sein Blick auf Jugendliche in schreiend bunter Kleidung, die ihnen zwei Nummern zu groß war. Sie schienen vor Gesundheit und Lebensfreude zu strotzen. Doch die Welt ist häufig nicht das, was sie zu sein scheint. Er selbst war ja kein normaler Priester. Er war ein Wolf Gottes.
Völlig in Gedanken versunken, hätte er beinahe nicht bemerkt, dass das Taxi sein Ziel erreicht hatte: ein Altenheim der Vinzentinerinnen. Er bezahlte, sah dem Taxi hinterher und blieb einen Moment vor dem schmutzigen, vernachläs-sigten alten Backsteinbau mit den eisernen Schmiedearbeiten stehen, die schon seit Jahren einen neuen Anstrich benötigten. Eine kleine Treppe mit rissigen, ausgetretenen Stufen führte zur Eingangstür. Er klingelte und rückte instinktiv Jacke und Halsbinde zurecht. Kurz darauf öffnete ihm eine Nonne. Sie war von kleiner Statur, hatte ein runzliges Gesicht und trug eine Brille, hinter deren fingerdicken Gläsern ihre Augen sich in der Ferne zu verlieren schienen.
»Ja? Was wünschen Sie, Pater?«
»Ich bin Albert Cloister.«
»Ah, gut, kommen Sie bitte herein. Die Oberin erwartet Sie schon.«
Pater Cloister trat ein. »Danke, Schwester.«
Die einschläfernde Stille, in der Pater Cloister anschließend auf einem klebrigen Plastikstuhl wartete, wurde von einer sanften Stimme unterbrochen.
»Sie können jetzt zu Schwester Victoria«, verkündete eine sehr hübsche, zarte junge Nonne.
Pater Cloister nickte dankbar und folgte ihr ins Innere eines dunklen Büros. Ein billiger grüner Teppichboden kontrastierte mit der schönen Christusskulptur aus Holz an der Wand gegenüber der Tür, über der Nonne, die dieser Gemeinschaft vorstand. Ihre Gesichtszüge waren fein geschnitten, und in ihren Augen lag eine melancholische Sanftheit. Sie erinnerten ihn an die Augen seiner Mutter, die viele Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
»Mutter Victoria«, begrüßte er sie.
»Pater Cloister«, antwortete sie von ihrem Stuhl aus. »Bitte setzen Sie sich. Ich habe alles vorbereitet, worum Sie mich am Telefon gebeten haben.«
»Vielen Dank.«
»Aber bevor ich Ihnen das alles gebe, gestatten Sie mir eine Frage.«
»Selbstverständlich.«
»Sagen Sie mir, ist es der Glaube an Gott, der Sie in dieser Sache leitet?«
Die Frage der Nonne mochte seltsam anmuten, doch Pater Cloister verstand ihre Beweggründe sofort.
»Ja«, bestätigte er rundheraus, aber ohne jede Theatralik.
»Das beruhigt mich. Das beruhigt mich sehr.«
Das konnte er sich gut vorstellen. In den Vereinigten Staaten versuchte die Kirche häufig, heikle Angelegenheiten zu vertuschen, um Skandale zu vermeiden. Mit Pflichtbewusstsein und hingebungsvollem Dienst an Gott hatte das nichts zu tun.
»Wenn es um die Mächte der unsichtbaren Welt geht«, fuhr sie fort, »ist es gut, jemanden zu haben, an den man sich wenden kann. Ich meine den Allmächtigen. Was hier geschehen ist, übersteigt mein Begriffsvermögen. Hoffentlich erleuchtet ER Sie, damit Sie es verstehen. Sie können mit jegli-cher Unterstützung durch mich und dieses Haus rechnen. Ich habe nur eine Bedingung, die ich auch bereits mit Seiner Exzellenz abgesprochen habe:
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