616 - Die Hoelle ist ueberall
Halten Sie Daniel aus Ihren Nachforschungen heraus. Ich hoffe, dass Sie meine Gründe nach-vollziehen können. Er hat schon viel zu sehr gelitten. Er ist wie ein kleines Kind, eine unschuldige Seele. Ich lasse nicht zu, dass er noch mehr leiden muss. Meine Entscheidung ist unumstößlich.«
Dieser Punkt war tatsächlich zwischen der Nonne und dem Bischof von Boston besprochen worden. Um unnötigen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, war Cloister einstweilen bereit, der Bitte der Nonne zu entsprechen. Vielleicht würde es ja auch überhaupt nicht nötig sein, mit dem Mann zu sprechen. Das würde die Zeit erweisen.
»Ich verstehe das, Mutter Victoria«, sagte Cloister. »Wenn es in meiner Hand liegt, ihm das zu ersparen, wird man ihn nicht belästigen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Es tröstet mich, das zu hören.« Die Nonne hielt kurz inne und seufzte, als wäre sie bereit gewesen, für ihre Entscheidung zu kämpfen, und atmete nun auf, weil das nicht nötig war. »Hier sind die psychiatrischen Berichte von Dr. Barrett. Ich hoffe, sie sind Ihnen von Nutzen. Sie hat sie hier vergessen, und ich nehme an, da sie in diesem Fall für uns gearbeitet hat, kann ich über sie verfügen und sie Ihnen aushändigen. Hier sind böse Mächte am Werk, das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich weiß, dass Sie eine Zeitlang in der Kongregation für die Selig-und Heiligsprechungsprozesse gearbeitet haben, Pater. Und dass Sie Fälle untersuchen, die niemand erklären kann. All das wird Ihnen helfen, da bin ich sicher. Doch vor allem: Vergessen Sie Ihren Glauben nicht. Der Glaube ist das Einzige, worauf wir in dieser Welt bauen können.«
Sie deutete auf die Wand hinter ihrem Rücken, an der das Kruzifix mit einem Jesus hing, der immer stärker zu leiden schien.
Glaube. Darauf lief alles hinaus. Die Wahrheit war nichts wert ohne den Glauben an die Sinne, an die Intelligenz, an die Art und Weise, in der eine Wahrheit entdeckt oder beschrieben wurde, an ihre Bedeutung. Sonderbare Art, die Welt zu verstehen. Die Wahrheit an sich musste wahr sein; sie setzte eine Art zu denken voraus, die von vornherein anstrebte, wahrhaf-tig zu sein, auch wenn Cloister nicht hätte sagen können, was genau das bedeutete. Das Ganze war ein Kreislauf, der nicht durchbrochen werden konnte.
Der Exorzismus stellte manchmal eine Lösung dar – in den Augen mancher Priester die einzige Lösung. Aber selbst der Exorzist der Diözese Rom und spirituelle Vorgesetzte aller katholischen Exorzisten, Gabriele Amorth, hatte gesagt, das neue, im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils entstan-dene Ritual sei untauglich. Die wirksamsten Gebete gegen Satan seien gestrichen worden. Okkulte und magische Praktiken galten nicht mehr als Grund für die Durchführung eines Exorzismus … Es sei wie ein Ritual für Menschen, die eigentlich nicht mehr an den Teufel glauben.
Albert Cloister lächelte freudlos, als ihm ein Bonmot von Charles Baudelaire einfiel, demzufolge die höchste List des Teufels darin bestehe, uns glauben zu machen, dass es ihn nicht gibt. Pater Amorth zitierte dieses Bonmot häufig. Für viele ist das Böse nicht mehr als ein Teil der Welt. Sie glauben nicht, dass es ein durch und durch böses Wesen gibt, welches das Böse in der Welt steuert und stärkt. Jeder Genuss, den die Welt biete, müsse auch ausprobiert werden. So sah für Gabriele Amorth die Quintessenz einer von Grund auf hedonisti-schen und selbstgefälligen westlichen Gesellschaft aus, in der die einzig anerkannten Werte die jeweils eigenen waren und dem eigenen Geschmack entsprechen mussten.
Anscheinend hatte Baudelaire recht gehabt. Es stimmte, dass immer weniger Menschen an den Teufel glaubten, zugleich aber immer eifriger dessen ungeschriebene Lehre umsetzten: Krieg, Hunger, Egoismus, Verwüstung der Welt, Erbarmungslosigkeit. Sämtliche Übel.
Cloister erinnerte sich an jene Augen im Feuer, wie sie sich bewegt und nach ihm gesucht hatten. In seine Seele vorgedrungen waren. Erneut hörte er im Geiste wie ein Mantra den Satz: »DIE HÖLLE IST ÜBERALL.« Bedrückt und erschrocken blickte er aus dem Fenster und sah Menschen, Geistliche wie Laien, deren Gewissheiten größer waren als die seinen, die etwas hatten, woran sie sich festhalten konnten, und sei es auch noch so unzuverlässig. Er hingegen hatte an die sicherste, festeste aller Gewissheiten geglaubt: an den Erlö-ser, und nun verzagte er. Sein Glaube bekam Risse. Er konnte verstehen, wie
Weitere Kostenlose Bücher