616 - Die Hoelle ist ueberall
bitte, ich denke an ihn.«
Cloister legte auf und blieb eine Weile reglos sitzen. Er wusste, an wen sich diese Botschaft richtete. Er wusste, dass sie sich an ihn selbst richtete. Sie musste sich an ihn richten. Wie jene Augen in dem Lagerfeuer in Brasilien. Wie der Satz im Sarg des spanischen Seligen.
In gewisser Weise hatte er damit gerechnet. Er hatte die ganze Zeit damit gerechnet. Und das machte ihm am meisten Angst. Er spürte, dass er jetzt da war, wo »etwas« ihn hinha-ben wollte, und zwar zum gewünschten Zeitpunkt. Er hatte das Gefühl, er könne beinahe die Fäden berühren, an denen er hing und die ihn steuerten wie eine Marionette, die den Launen eines Unbekannten folgte.
Plötzlich meinte Cloister, einen fremdartigen Blumenduft wahrzunehmen, der sich sogleich wieder verflüchtigte – falls er ihn sich nicht ohnehin eingebildet hatte. Jetzt brauchte er ein Nikotinkaugummi. Sein Krieg gegen das Rauchen be-scherte ihm allmählich den einen oder anderen Sieg, auch wenn er nun von den Kaugummis abhängig war. Er versuchte, sich von seinen Gefühlen und Sinneswahrnehmungen zu lösen und sich stattdessen auf seinen scharfen Verstand und seinen kühlen Kopf zu verlassen. Er schaltete den Computer ein und wartete ab, bis das System gestartet hatte. Dann stellte er eine drahtlose Verbindung zum Internet her – das Kolleg verfügte über eine Hochgeschwindigkeitsleitung. Er öffnete die Google-Suchmaske und schrieb ins Suchfeld: »VINTAGE INN« – eine englische Übersetzung von »Herberge Zur Weinlese«. In weniger als einer Zehntelsekunde warf die Datenbank der Suchmaschine das Ergebnis aus: beinahe neunzig-tausend Treffer. Der erste gehörte zu einem Hotel im Napa Valley, in Yountville, Kalifornien.
Cloister klickte auf den Link, um zu der Website zu gelangen, woraufhin eine Flash-Animation mit einem Zitat aus dem Sunset Magazine startete, in dem das Hotel aufgrund sei-nes Komforts und guten Geschmacks mit einem französischen Chateau verglichen wurde.
Das brachte ihn zwar kein Stück weiter, doch es half ihm, seine eigene Rolle in den Geschehnissen distanzierter zu betrachten. Er musste seine Nachforschungen anstellen, ohne gleich selbst in die Versuchsanordnung zu klettern. Das war von wesentlicher Bedeutung. So hatte man es ihm beigebracht, und er hatte es sich gut gemerkt. Er würde noch ge-nügend Gelegenheit haben, sich selbst mit den Augen eines Gerichtsmediziners zu betrachten, der eine Leiche seziert. Zunächst musste er die übrigen, unzusammenhängenden Da-ten verstehen, sie zusammenfügen und ihnen, verflucht noch einmal, endlich ihren Sinn entlocken.
Er kehrte in die Realität zurück, sah auf den Bildschirm und sagte sich, dass er seine Suche eingrenzen müsse. Er be-fand sich in Boston, und der Exorzismus hatte in Boston statt-gefunden. Von daher schien es logisch, den Namen der Stadt hinzuzufügen.
Er ging zurück zur Suchmaske und fugte »BOSTON« zu seiner Suche hinzu.
Kein Ergebnis.
Er löschte das Wort wieder und schrieb es vor »VINTAGE INN« statt dahinter. Dann startete er die Suche erneut.
Nur zwei Treffer für »BOSTON VINTAGE INN«, in et-was weniger als einer halben Sekunde. Der erste Link führte zu einer Pornografieseite, die sämtliche sexuellen Vorlieben der Männer bediente: Frauen, reife Frauen, Kinder, Analsex, Bisexuelle et cetera.
Er ging zurück zur Ergebnisseite und klickte auf den zweiten Link. Dieser führte auf die Seite eines Reiseveranstalters und gab Auskunft über ein Hotel in Kanada. So kam er nicht weiter, doch das beunruhigte ihn nicht. Komplizierte Nachforschungen brauchen ihre Zeit. Was ihn wirklich beunruhigte, war die Art und Weise, wie die Daten, die zu diesen Ermittlungen geführt hatten, zu ihm gelangt waren; insbesondere diese letzte Botschaft, überbracht durch den Schrei eines geistig behinderten alten Mannes, den man einem Exorzismus unterzogen hatte …
Cloister zog es vor, nicht weiter darüber nachzugrübeln. Er wollte nicht zulassen, dass seine analytischen Fähigkeiten dadurch beeinträchtigt wurden. Er klappte das Laptop zu, damit es auf Stand-by-Betrieb umschaltete, zog seine Jacke an und verließ das Zimmer. Er brauchte frische Luft. Die besten Gedanken kommen manchmal, wenn man nicht nach ihnen sucht. Sie sind wie scheue Vögel, die sich nur nähern, wenn keiner hinsieht. Und das ist dann der Augenblick, in dem man sie einfangen muss. Deshalb trug Cloister stets ein Diktiergerät bei sich; oft behielt er es sogar in der Hand,
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