616 - Die Hoelle ist ueberall
verantwortlich. Der primitivste Teil sei-nes Gehirns widersetzte sich der Vernunft.
Unten in der Krypta fiel Cloister erneut die bedrückende Atmosphäre auf. Doch nun würde er das nicht mehr als Ein-bildung abtun. Es war real. Sehr stark spürbar. Man konnte es geradezu mit Händen greifen. Der Grund dafür lag, wie seine Kollegen von den Wölfen gesagt hätten, in einer starken Konzentration übersinnlicher Energie.
Der Priester beschloss, die üblichen Regeln zu befolgen. Die erste lautete: nichts überstürzen. Er hatte eine Batterielampe bei sich, die er nun etwa in der Mitte des Raums aufstellte. Dann stellte er das mit neuen Batterien versehene Diktiergerät auf den Altar und holte sein Notizheft aus der Tasche. Er las noch einmal die Fragen durch, die er sich notiert hatte. Dann stieß er einen langen Seufzer aus, atmete tief durch und aktivierte das Diktiergerät. Mit lauter Stimme stellte er seine Fra-gen, wobei er nach jeder Frage auf die Uhr sah und sechzig Sekunden wartete. Er ging davon aus, dass eine Minute je Antwort genügen würde, denn die Fragen waren einfach und direkt. Am Ende fügte er noch eine Frage hinzu, die ihm just in diesem Augenblick einfiel.
»Ich heiße Albert Cloister. Bist du sicher, dass ich derjenige bin, mit dem du reden willst?«
»Warum willst du mit mir reden?«
»Wer bist du?«
»Was willst du von mir?«
»Kannst du auch anders in Erscheinung treten?«
»Bist du die Seele eines verstorbenen Menschen?«
»Was bist du?«
»Woher kommst du?«
»Wo bist du?«
»Bist du ein wohlmeinendes oder ein böses Wesen?«
»Bist du der, der durch den Mund des Gärtners gesprochen hat?«
Da er mit seinen späteren Fragen nicht auf etwaige Antworten eingehen konnte, überschnitten sich die Fragen teilweise. Einige Fragen waren bereits in anderen enthalten, doch das war keine schlechte Idee, ganz im Gegenteil. Es ist immer gut, Fragen in anderen Worten zu wiederholen, um die Zu-verlässigkeit einer Aussage zu überprüfen. Es kam schließlich nicht auf die Eleganz der Befragung an, sondern auf deren Wirksamkeit.
Nach Beendigung dieses Gesprächs ohne hörbaren Ge-sprächspartner, beendete Cloister die Aufnahme, um sich an-zuhören, was das Gerät aufgezeichnet hatte.
»Ich heiße Albert Cloister. Bist du sicher, dass ich derjenige bin, mit dem du reden willst?«
»Ja.«
Eine knappe, eindeutige Bestätigung. Das Wesen antwortete ihm.
»Warum willst du mit mir reden?«
»Weil du mit mir wirst reden wollen.«
»Wer bist du?«
»Dein unsichtbarer Freund … Besser gesagt, dein unsichtbarer Feind.«
In dieser Antwort lag ein Anflug der Ironie, die Cloister auch an der ersten Tonbandstimmenaufnahme bemerkt hatte.
»Was willst du von mir?«
»Deine Seele.«
»Kannst du auch anders in Erscheinung treten?«
»Ja.«
Es war ein sehr gedehntes Ja, als wollte das Wesen sich mit seiner Macht brüsten.
»Bist du die Seele eines verstorbenen Menschen?«
»Nein.«
»Was bist du?«
»Das, was ich bin.«
»Woher kommst du?«
»Aus dem Immerdar, vom Beginn der Zeiten, aus der Ewigkeit.«
»Wo bist du?«
»Überall.«
»Bist du ein wohlmeinendes oder ein böses Wesen?«
»Ich stehe über Gut und Böse.«
»Bist du der, der durch den Mund des Gärtners gesprochen hat?«
»Ja.«
Mit jeder Antwort wuchs Cloisters Beunruhigung. Die Antworten kamen ohne Zögern und klangen sehr bestimmt. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit verspürte Cloister nicht nur Angst, sondern Panik. Das Diktiergerät umklammernd, verließ er eilig die Krypta und wäre beinahe auf der Leiter ausgerutscht, die nach draußen führte. Ihm wurde bewusst, dass er völlig verkrampft war und zitterte. Er verließ das Ge-bäude und streifte ziellos durch die Straßen. Es war bereits dunkel und sehr kalt, denn es war eine wolkenlose, klare Nacht. Die Sterne standen majestätisch am Himmel, trotz der vielen Lichter der Stadt deutlich sichtbar. Boston war nicht so groß wie New York. Dort sah man die Sterne nie. Die Stadt, die nie schläft, ist auch die Stadt, in der der Nachthimmel nie zu sehen ist, schlicht und ergreifend deshalb, weil die vom Erdboden abgestrahlten Millionen Watt eine Glocke aus dif-fusem Licht erzeugen. Doch in Boston konnte man in wol-kenlosen Nächten noch einige Sterne sehen – diese Lichter, die unseren Geist in Bann schlagen und an ferne, unbekannte Orte entführen, die unsere Fantasie ebenso stimulieren wie der Anblick der leuchtenden Himmelskörper selbst.
Nach einer Weile setzte
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