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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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Cloister sich neben der Statue des Abolitionisten William Lloyd Garrison auf eine Bank auf dem Mittelstreifen der Commonwealth Avenue. Seine Hand schmerzte, so fest hielt er das Diktiergerät umklammert. Er legte es neben sich auf die Bank, als schaffte er so auch Abstand zu dem, was er soeben gehört hatte, und lehnte sich zurück, um den Himmel zu betrachten. Sein dampfender Atem trübte seinen Blick wie eine flüchtige Wolke. Der Ver-kehrslärm war beinahe verstummt. Er nahm das Diktiergerät und lauschte erneut der Stimme, die sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatte. Die Stille der alten Krypta barg eine ohrenbetäubende Präsenz.
    »Na, mein Freund?«, sprach ihn eine dunkle Gestalt an, die unversehens neben ihm aufgetaucht war.
    »Was …?«
    »Haben Sie mal ’ne Zigarette, Mann?«
    »Tut mir leid«, erwiderte der Priester und musterte seinen Gesprächspartner, einen alten Bettler mit schütterem, unge-waschenem Haar, abgetragenem Mantel und blauer Wollmüt-ze. »Ich rauche seit einem Monat nicht mehr.«
    »So ein Pech.«
    »Das können Sie laut sagen.«
    Im Augenblick hätte Cloister eine ganze Schachtel rauchen können.
    »Warten Sie mal … mal sehen.« Der Bettler steckte die Hand in die schmuddeligen Falten seines Mantels. »Na, so was, da hab ich doch wirklich ’ne Schachtel Kippen! Sogar Lucky Strike.«
    »So ein Glück«, sagte Cloister und nahm eine zerknitterte Zigarette aus der Schachtel, die der Bettler ihm hinhielt.
    »Irgendwo müsste ich auch noch Streichhölzer haben …«
    Cloister merkte, dass er gar nicht rauchen wollte. Er war es satt, Opfer des giftigen Tabaks zu sein. Doch es erschien ihm unhöflich, dem Bettler die Zigarette zurückzugeben. Der gab ihm Feuer und setzte sich neben ihn auf die Bank, nachdem er mit einer Geste um Erlaubnis gebeten hatte.
    »Sie sind wunderschön, was?«, meinte der Alte, den Blick zum Himmel gerichtet.
    »Ja, das sind sie.«
    »Was macht eigentlich so ’n eleganter Herr wie Sie um diese Uhrzeit allein hier, wenn ich fragen darf? … Hat Ihre Frau Sie rausgeworfen?«
    »Ich bin nicht verheiratet. Ich wollte einfach spazieren ge-hen.«
    »Um diese Uhrzeit! Bei der Kälte frieren einem ja die Gedanken im Kopf ein.«
    Cloister rauchte, ohne zu inhalieren, doch das tat er beinahe unbewusst. In Gedanken war er ganz weit weg. Die Unterhaltung mit dem alten Bettler beanspruchte sozusagen nur die äußerste Schicht seiner Aufmerksamkeit; das, was er mit seinem Diktiergerät aufgenommen hatte, beschäftigte hingegen seinen innersten Kern.
    »Wollen Sie ’n Schluck, Mann?«, fragte der Bettler und wedelte mit einem Flachmann mit irischem Whiskey.
    Bei diesem Angebot lächelte der Priester zum ersten Mal. Nun wurde er sich der Situation erst richtig bewusst. Ein ar-mer Mann ohne Dach überm Kopf, gekleidet in Lumpen, spendierte ihm eine Zigarette und etwas zu trinken. Ein frei-giebiger Mann, trotz seiner Armut. Das war bewundernswert.
    »Nein, danke, eigentlich …«
    »Eigentlich was?«
    »Ich meine, ich trinke normalerweise nicht … Obwohl – was soll’s. Geben Sie her. Ehrlich gesagt, kann ich einen Schluck jetzt gut vertragen.«
    Die beiden Männer teilten sich den Whiskey auf ihrer Bank auf der Commonwealth Avenue, rauchten und betrachteten die Sterne am Firmament. Der Priester schwieg und versuchte, eine Erklärung für das Geschehene zu finden oder, besser gesagt, einen Spalt, durch den er einen Lichtschimmer sehen würde. Er verspürte eine gewisse Ruhe, wie sie für die Verzweiflung typisch ist, die Ruhe vor dem Sturm.
    »Wussten Sie, dass Kennedy oft den Himmel beobachtet hat?«
    Die Stimme des Alten klang verändert, nicht so barsch wie zuvor. Seine Augen waren feucht.
    »Kennedy«, fuhr er fort, »hat den Leuten versprochen, dass der Mensch zum Mond fliegen würde. Und so ist es ja auch gekommen. Wenn die heutigen Politiker bloß öfter in den Himmel gucken würden …«
    Er brach ab. Tränen fielen in seinen schütteren Bart. Jeder Mensch trägt eine Geschichte mit sich herum, doch die Geschichte eines Obdachlosen ist immer traurig.
    »Ich muss jetzt ins Asyl«, sagte der Obdachlose und stand auf.
    »Danke für die Zigarette und den Whiskey«, entgegnete Cloister und stand ebenfalls auf. »Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen ein paar Dollar gebe.«
    »Da sage ich nicht nein, mein Freund, ganz und gar nicht.«
    Der Priester zog einen Zwanzigdollarschein aus der Brieftasche und reichte ihn dem Mann. Der warf einen Blick dar-auf und zerknüllte ihn dann

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