616 - Die Hoelle ist ueberall
er erneut die einsamen Wände an. »Ich will diese Wahrheit erfahren, von der du sprichst. Ich muss sie erfahren.«
In diesem Augenblick überlief ihn erneut ein eisiger Schauder. Er war an den Altar getreten, auf dem er in seinem Traum gesündigt hatte. Was ihm bei seinem ersten Besuch in der Krypta als blutige Schrift erschienen war – die Zahl 109 –, war nun frisch und glänzte im schwachen Licht der Lampe leuchtend rot. Die Flüssigkeit schien beinahe zu kochen.
Cloister war ans Ende der Aufzeichnungen gelangt. Er stellte das Gerät erneut an. Er benötigte Antworten. Nach kurzer Zeit leuchtete das Lämpchen, das eine Aufzeichnung meldete, auf.
»Was muss ich tun?«, hatte der Priester gefragt. »Wer bist du?«
Wenig später hörte er sich an, was das Diktiergerät aufgezeichnet hatte. Nach seinen Fragen erklang wieder ganz deutlich die feste Stimme jenes Wesens.
»Du vermutest ja schon, wer ich bin … aber du musst es glauben, und man glaubt nur das, was man selbst entdeckt. Du darfst in dei-nem Herzen keinen Zweifel zurückbehalten. Wenn du die Wahrheit kennst, wirst du auch nicht mehr zweifeln. Du musst ein Buch fin-den, aus dem du erfährst, was du wissen musst. Es befindet sich an einem Ort, den du gut kennst. Weit fort von hier, doch in der Nähe deiner geistigen Heimat. In der Nähe des Ortes, an dem du zum ersten Mal Kenntnis von mir erhalten hast … Seine Nummer lautet 4-45022-4. Es gibt nur eine Wahrheit, doch der Wege, die zu ihr führen, sind viele. Die Wahrheit – die Wahrheit, die du entdecken wirst – wird dich nicht befreien.«
27
Fishers Island
Audrey hatte eine Stunde Zeit. Im Rahmen einer lokalen Festivität würde der Schriftsteller Anthony Maxwell Bücher signieren und an einem Kinderfest in den Einrichtungen der Amerikanischen Legion von Fishers Island teilnehmen. Die Veranstaltung sollte zwei Stunden dauern, doch Audrey erschien es besser, den Zeitrahmen nicht ganz auszureizen. Deshalb hatte sie sich ein Zeitlimit von sechzig Minuten gesetzt, um ins Haus des Schriftstellers zu gelangen und es zu durchsuchen. Sie wusste nicht einmal, wonach sie suchen sollte, und sie fürchtete sich vor dem, was sie finden könnte.
Auf der Suche nach einem Weg hinein umrundete sie das ganze Haus – es war alles abgeschlossen. Maxwell hatte nicht einmal aus Versehen ein Fenster im Obergeschoss offen gelassen – was bei einem allein lebenden Mann völlig normal gewesen wäre. Zu Audreys Pech war der Mann genauso peni-bel, wie er wirkte. Sie fühlte sich machtlos. Und ihr lief die Zeit davon. Ihr blieben nur noch fünfundvierzig Minuten.
Die Idee für die Lösung kam aus völlig einer unerwarteten Richtung – nämlich von einem Spatzen.
»Das ist ja völlig verrückt …«
Zweifellos war es das. Doch sie sah keine Alternative. Sie würde durch den Schornstein einsteigen. Um aufs Dach zu gelangen, musste sie auf einen Baum klettern, der dicht am Haus stand. Seit zehn Jahren war Audrey auf keinen Baum mehr geklettert, doch zu ihrem Glück stellte dieser Baum keine große Herausforderung dar: Der Stamm war voller Äste und Vertiefungen, wo sie Halt finden konnte. Vom Baum aufs Dach zu gelangen, dürfte auch nicht allzu schwierig sein, denn ein kräftiger Ast reichte bis einen halben Meter vors Dach.
Audrey führte ihren Plan mit militärischer Präzision aus. Nach weniger als zehn Minuten war sie auf dem Dach und hatte lediglich ein paar harmlose Kratzer davongetragen.
Der Schornstein war nur wenige Meter entfernt, doch sie musste vorsichtig sein. Der Regen der vergangenen Nacht hat-te die Dachziegel schlüpfrig gemacht. Eine kleine Unachtsam-keit, und sie würde sechs Meter tief fallen. Audrey hielt den Atem an, bis sie den gemauerten Schornstein erreicht hatte.
»Dann mal los«, feuerte sie sich selbst an.
Als sie auf dem Schornstein hockte, hatte sie die gute Idee, die Schuhe auszuziehen und in ihrem Mantel zu verstauen. Die Handschuhe zog sie nicht aus. So würde sie in Maxwells Wohnzimmer und im übrigen Haus nicht überall schwarze Fingerabdrücke und Fußspuren hinterlassen – vorausgesetzt, dass sie tatsächlich hineingelangte. Sie tastete mit dem Fuß nach der ersten Stufe der eisernen Kaminleiter und stieg in die undurchdringliche Dunkelheit des Schornsteins hinab. Sie bewegte sich sehr langsam und achtete auf jeden Tritt. Nach der Hälfte der Strecke spürte sie ein unerträgliches Kitzeln in der Nase, ausgelöst vom Ruß, der ihr auch in den Augen brannte und ihr die
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