616 - Die Hoelle ist ueberall
verwirrt, sein Herz schlug wie wild. Er bemerkte, dass er schweißgebadet war. Er verspürte die gleiche Angst wie ein Kind, wenn das Licht ohne Vorwarnung ausgeht und alles finster wird … Der Traum war so lebhaft, so real gewesen. Er vergewisserte sich sogar, dass er nicht blutüberströmt war. Das war er zwar nicht, doch beschämt bemerkte er einen feuchten Fleck auf seiner Hose.
Was der Jesuit selbstverständlich nicht wissen konnte, war, dass Daniel nicht weit von hier im Altenheim der Vinzentinerinnen ebenso schweißgebadet und mit Tränen in den Augen erwacht war und das Federbett umklammerte. Er schrie nicht, er stöhnte nur kaum hörbar vor Entsetzen. Auch er hatte ei-nen grauenvollen Alptraum gehabt.
Allmählich beruhigte Cloister sich ein wenig. Sein Mund war ausgetrocknet und seine Zunge belegt, zudem verspürte er eine tiefe seelische Unruhe. Er empfand einen unwiderstehlichen Drang, mit dem Wesen zu kommunizieren. Dieser Alptraum konnte kein Zufall sein. Es gab keine Zufälle, nur die Unwissenheit desjenigen, der den Grund eines Vorfalls nicht kennt.
»Hat dir mein Geschenk gefallen? Du kannst es gar nicht leugnen. Ich weiß, dass es dir gefallen hat.«
Dies waren die ersten Worte, die sein Diktiergerät diesmal aufgezeichnet hatte. Als Cloister das Gerät in der beklemmen-den Atmosphäre der Krypta einschaltete, ertönten sie aus dem kleinen Lautsprecher. Wer oder was auch immer da mit ihm kommunizieren mochte, er machte nicht viel Federlesens.
Angewidert stieß Cloister die Luft aus. Er war dem Wesen, das seine Seele wollte, in die Falle gegangen. Konnte es der Teufel sein? Das schien die einfachste Lösung. Und vielleicht sogar die richtige. Es war ihm gelungen, Cloisters Herz mit Schuld zu erfüllen, mit der Schuld, lustvoll gesündigt zu ha-ben. Der Frau, die ihn in seinem Traum aufgesucht hatte, war es gelungen, die niedersten Instinkte in ihm anzusprechen, die sexuelle Leidenschaft, die Fleischeslust. Als Priester hatte er ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Seither war er nie mehr mit einer Frau zusammen gewesen.
Die Aufzeichnung endete mit einem Lied, das Albert Cloister aus seiner Jugend kannte, als er zum ersten und einzigen Mal verliebt gewesen war. Er hatte das Gefühl, sein Herz werde mit einer Säge geöffnet und etwas sehr Kostbares, das er dort aufbewahrt hatte, werde herausgerissen. Das Lied war She’s A Mystery To Me. Er bewahrte es zusammen mit der Erinnerung an sein Mädchen in einer goldenen Urne der Glückseligkeit auf. Es gehörte der Vergangenheit an, dennoch war es ein Teil von ihm, und es war rein.
Night falls, I’m cast beneath her spell
Daylight comes, our heaven’s torn to hell
Am I left to burn and burn eternally
Eternally
Fallen angel cries Eternally … hahaha!
Bei den letzten Zeilen klang die Stimme spöttisch, auf belei-digende Weise spöttisch. Und dieses Lachen am Ende … Wa-rum lachte dieses Wesen? Worüber lachte es?
»Suchst du die Wahrheit?«, fragte die Stimme als Nächstes, nun wieder in eisigem Ton, zischend. »Ja, du willst die Wahrheit wissen. Die echte Wahrheit, die weder Glauben noch Gläubige benötigt.«
Ein kalter Schauder überlief Cloister. Das Wesen zitierte ihn beinahe wörtlich, zitierte die Schlusspassage seiner Dok-torarbeit: »Der Glaube führt uns zur Wahrheit, aber die Wahrheit braucht keine Gläubigen; denn die Wahrheit bedarf nicht des Glaubens, doch der Glaube bedarf der Wahrheit sehr wohl.«
Die Wahrheit. Der Jesuit wollte tatsächlich die Wahrheit erfahren. Auch wenn er der vermeintlichen Wahrheit jenes Wesens misstraute, das ihn manipulierte und nach Lust und Laune steuerte, ihm die Seelenruhe raubte, ihm Angst ein-flößte, seine Urteilsfähigkeit trübte. Doch er war mutig ge-nug, hierzubleiben und herauszufinden, was es herauszufinden gab. Jedes Wissen, sei es auch unangenehm oder schmerzlich, war der Unwissenheit vorzuziehen.
»Was ist die Wahrheit? Dass ›die Hölle überall ist‹ – dass diese schlechte Welt uns alle in die Verdammung reißt?«, brüllte Cloister in die staubige Luft der Krypta.
Er erwartete keine Antwort. Er hatte das deutliche Gefühl, einem vorherbestimmten Plan zu folgen. Voller Argwohn gegenüber dem Fürsten der Lügen, doch zugleich voller Begierde, die Wahrheit zu entdecken – dieser Wind, der seit seiner Kindheit die Segel seiner Seele blähte –, war Cloister bereit: Die Wahrheit war das Einzige, was alle Opfer lohnte.
»Ich werde jedes Spiel mit dir spielen«, brüllte
Weitere Kostenlose Bücher