616 - Die Hoelle ist ueberall
ausgetrocknete Kehle verklebte. Die Schornsteinfeger hatten jeden Cent verdient, den sie berech-neten, um Schornsteine wie diesen zu reinigen. Sie verkniff sich das Niesen und betete, dass sie nicht irgendwo auf ein Vogelnest oder Fledermäuse treffen würde. Falls aus der Dunkelheit unversehens ein geflügeltes Wesen auftauchte, würde sie laut losschreien.
Schließlich war es unter ihren Füßen heller als über ihrem Kopf. Ihr fehlten noch vier Trittstufen bis zum Ende des Schornsteins, doch sie ließ sich Zeit. Im Geiste zählte sie die letzten Stufen: vier, drei, zwei, eins …
Die Asche am Boden des Kamins war kalt. An einer Seite stapelten sich die Scheite, die Maxwell am Morgen aus dem Schuppen geholt hatte. Audrey zog die Handschuhe aus, stülpte sie um und steckte sie in die Tasche. Trotz aller Vorsicht war ihr Mantel voller Ruß. Sie zog ihn aus und drapierte ihn über das Holz, um keine Spuren im Haus zu hinterlassen. Sie würde ihn holen, ehe sie ging. Unter dem Mantel war ihre Kleidung beinahe frei von Ruß geblieben. Sie klopfte ihre Füße ab, zog die Schuhe an und war bereit zur Durchsuchung von Maxwells Haus.
Kaum zu fassen, dass sie es geschafft hatte! Sie musste lä-cheln, und in ihrem rußverschmierten Gesicht blitzten die Zähne auf. Doch das Lächeln verschwand sofort, als sie sich vergegenwärtigte, wo sie sich befand und was sie hergeführt hatte. Besorgt sah sie auf die Uhr. Ihr blieben nicht einmal zwanzig Minuten bis zum Erreichen ihres Zeitlimits.
Das Wohnzimmer bot nichts Außergewöhnliches. Es sah aus wie das Refugium eines beliebigen alleinstehenden Er-wachsenen mit Geschmack, der keine finanziellen Probleme hatte. Es gab zwei Sofas, einen alten Ledersessel vor dem Ka-min – teure Möbel –, Stehlampen, viele Holzregale voller Bücher. Ein paar auffällige Einrichtungsgegenstände gab es auch: einen großen Plasmafernseher, eine Playstation und eine teure Stereoanlage der Marke Marantz. Audrey erschauerte, als ihr klar wurde, dass dieses Wohnzimmer auch ihr gehören könnte.
Sie beschloss, ins Obergeschoss zu gehen, wo sich vermutlich die Schlafzimmer befanden. Wenn es etwas zu entdecken gab, dann war der privateste Teil des Hauses der beste Ort für den Beginn ihrer Suche.
Noch eine Viertelstunde.
Der erste Raum, den Audrey betrat, war Maxwells Arbeits-zimmer. Auf einem Tisch stand ein Computer, daneben lagen lose Blätter mit handschriftlichen Notizen, und an der Wand standen zwei Regale mit sämtlichen veröffentlichten Geschichten von Bobby Bop, Maxwells literarischem Pseudonym. Aud-rey nahm ein Buch aus dem Regal. Die Zeit lief ihr davon, doch sie musste ihre Neugier befriedigen. Sie schlug die erste Seite auf. Die Zeichnungen waren rundlich und einfach, wie bei Geschichten für die Kleinsten üblich. Eine lächelnde Lok spuckte Rauch aus dem Schornstein, und daneben stand auf einer Blumenwiese der Held der Geschichte, Bobby Bop.
»Er hat sein Gesicht«, sagte Audrey erstaunt und abgesto-ßen.
Bobby Bops Gesicht war grob und sehr vereinfacht gezeichnet, doch es gab eine unleugbare Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Schöpfer Anthony Maxwell.
Gedankenverloren begann Audrey, den in großen Buchstaben gedruckten Text zu lesen.
Guten Tag, Herr Zug!
Guten Tag, Bobby Bop! Was willst du den Kindern heute zeigen?
Audrey las auf der rechten Seite weiter. Dort befand sich ein weiteres Bild vom Herrn Zug und Bobby Bop. Die beiden wirkten nun sehr ernst.
Ich werde ihnen den Unterschied zwischen einem Menschen, den sie kennen, und einem fremden Menschen erklären.
Als Audrey dies las, musste sie schlucken. Sie wusste sofort, wie die Moral dieser Geschichte lauten würde. Sie blätterte so lange um, bis sie zur letzten Seite gelangte. Dort stand der gute Rat des weisen Bobby Bop:
Niemals, niemals, niemals darfst du mit fremden Leuten mitgehen.
Darauf folgte die unvermeidliche Abschiedsformel:
Was du tun sollst und was nicht, lernst du rasch mit Bobby Bop.
Mit zitternden Händen stellte Audrey das Buch zurück an seinen Platz und wandte sich dem nächsten Raum zu. Er war leer, ebenso wie die beiden folgenden Räume. Nun blieb ihr nur der Raum am Ende des Flurs: Maxwells Zimmer. Ein nervöser Blick auf die Uhr sagte Audrey, dass sie noch knapp zehn Minuten Zeit hatte. Sie ging schneller, doch dann stand sie unerwartet vor einer verschlossenen Tür. Sie hatte sich so darauf konzentriert, ins Haus zu gelangen, dass sie gar nicht mit der
Weitere Kostenlose Bücher