617 Grad Celsius
etwas missmutig wirkte. Anna überlegte, dass es unhöflich von ihr war, während des Rendezvous dienstlich zu werden. Trotzdem fuhr sie fort: »Ich geb dir mal die Beschreibung des Unbekannten durch: groß, etwa dreißig Jahre alt, mittellanges dunkles Haar, relativ nachlässig gekleidet. Sven, war er schlank?«
Ihr Gegenüber nickte.
»Schlank«, meldete sie und fragte: »Bart?«
Sven schüttelte den Kopf.
»Kein Bart. Wenn uns noch etwas einfällt, ruf ich an. Unser bayerischer Kollege hat sicher die Aktenkopie auf seinem Zimmer. Könnt ihr bitte mal nachsehen, ob ein solcher Typ erwähnt wird? Ihr erreicht mich bis etwa Mitternacht auf dem Handy. Danke!«
Sie verstaute das Telefon und entschuldigte sich erneut bei Sven, der bereits wieder am Herd stand.
»Keine Ursache«, gab er zur Antwort, ohne sich umzuwenden.
Der zweite Gang bestand aus selbst fabrizierten Nudeln und einer Sauce aus Kaninchenfleisch, Tomaten und Parmesan. Dazu tranken sie Weißwein, einen australischen Chardonnay, der für Annas Geschmack übertrieben kräftig nach Holzfass schmeckte. Der Rote, den sie mitgebracht hatte, wäre ihr lieber gewesen. Sie redeten nicht viel und Anna hatte das Gefühl, Sven mit dem dienstlichen Telefonat verärgert zu haben.
Während er die benutzten Teller abräumte, waren ihre Gedanken wieder bei Wegmann und Schmiedinger. Vielleicht würden die Kollegen es ablehnen, sich den Feierabend durch das Aktenstudium vermiesen zu lassen. Am liebsten hätte sie noch einmal versucht, Bruno zu erreichen.
Frische Teller und noch mehr Besteck ließen darauf schließen, dass es einen weiteren Gang geben würde. »Eigentlich bin ich schon satt«, bekannte Anna.
»Es gibt noch Fisch. Seeteufel und Scampi mit Hummersauce.«
»Klingt hervorragend, aber lass uns vorher ein kleines Päuschen machen.«
»Klar.«
Um Sven versöhnlich zu stimmen, forderte sie ihn auf, ihr die restliche Wohnung zu zeigen.
Der Flur führte am Bad vorbei in einen L-förmigen Raum, an dessen Ende das Bett stand. Zugleich war er Wohnzimmer und Probenraum. Eine Gitarre lehnte an einem Verstärker. Ein Regal aus Ziegelsteinen und Glasplatten, darin die Stereoanlage und CDs bis unter die Decke. Daneben ein riesiger Sitzsack im Camouflage-Dekor. Von der Decke baumelte eine orangefarbene Hängematte.
Eine Glastür führte auf einen Balkon. Draußen stand der Vollmond über den Dächern. Sven trat neben Anna und sagte: »Heute Nacht soll es eine Finsternis geben.«
»Ja, zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, stand in der Zeitung.« Anna war gespannt, wo sie dann schlafen würde. Sie fand, dass sie der hübsche Kerl jetzt eigentlich küssen könnte.
Als er es nicht tat, deutete sie auf die Gitarre. »Veranstalten die Nachbarn keinen Aufstand, wenn du hier spielst?«
»Kopfhörer.«
Anna nickte. Der Tisch vor ihr war voller CD-Hüllen. Ein Computermonitor flimmerte, als Sven die Maus bewegte. Eine Homepage mit Schnörkelschrift: Silverhammer. Darunter sprangen fünf Musiker zugleich in die Höhe. Der Große in der Mitte war Sven.
»Unser neuer Internetauftritt«, erklärte er.
»Bist du ständig online?«
»Flatrate. Es lohnt sich, wenn man häufig Musik herunterlädt. Wie gefällt dir die Seite?«
Sieht aus, wie eine selbst gebastelte Homepage eben aussieht, fand Anna. »Hast du sie programmiert?«
»Unser Drummer.«
Sven klickte auf die Menüleiste und rief Unterseiten auf: die Biografien der Musiker, die Geschichte der Band. Er führte ihr eine Hörprobe vor – das Stück erinnerte Anna an das Konzert, das sie im Januar vor zwei Jahren miterlebt hatte. Keine zwei Wochen vor dem Mord an Daniel.
Sie sagte: »Ihr seid viel zu gut, um aufzuhören.«
Sven wandte sich ihr zu und lächelte.
Jetzt nimmt er mich in den Arm, dachte Anna.
Doch er fragte nur: »Ready for the fish?«
In diesem Moment schrillte das Telefon und der Abend nahm die schrecklichste aller Wendungen, die Anna sich nur denken konnte.
61.
Bruno Wegmann hatte rasch geahnt, worauf der Kollege neugierig war. Sie lehnten an einem der Stehtische im Blue Velvet an der Mintropstraße und nippten vom Bier, das hier fünf Euro kostete. Es war noch früh am Abend, aber in diesem Schuppen war immer etwas los.
Auf der Bühne stieß ein Mädel sein Becken gegen die Chromstange. Golden Eye dröhnte aus den Lautsprechern. Bruno musste Schmiedinger fast ins Ohr brüllen, um sich mit ihm unterhalten zu können.
Er erklärte: »Wir hatten mal den Fall einer Staatsanwältin, die
Weitere Kostenlose Bücher