617 Grad Celsius
die Mailbox ab und wiederholte den Wortlaut in den Hörer des Hotelapparats. Vermutlich hatte Schmiedinger den Profiler des bayerischen Landeskriminalamts in der Leitung, den er schon des Öfteren erwähnt hatte.
Fallanalyse – die kriminalistische Spielart der Sterndeuterei.
Sich zum hundertsten Mal durch die Akte wühlend, war sich Bruno sicher, dass ein Mann, auf den die Beschreibung zutraf, nirgendwo zu finden war. Ihm fiel Costa Tönissen ein, der junge Buchhändler. Daniels bester Freund aus alten Schulzeiten – er hatte angegeben, in den Tagen vor dem Mord mit Daniel telefoniert zu haben.
Zwei Bettgefährten, die sich suchten und fanden, würde ich sagen. Womöglich hatte der Künstler seinem Freund von der jüngsten Eroberung berichtet.
Schmiedinger legte auf.
»Was sagt der Kollege von der Psychofront?«, fragte Bruno.
»Nicht viel. Ich hab ihn im Restaurant gestört. Seine Frau hat heute Geburtstag.«
Dafür habt ihr euch aber lange unterhalten, dachte Bruno und sagte: »Wer uns vielleicht weiterhelfen könnte, ist Costa Tönissen.«
»Tönissen? Ist das der Buchhändler in Düsseldorf, wohnhaft in Kaarst, der das Opfer seit der fünften Klasse des Albert-Einstein-Gymnasiums kennt?«
»Ich bewundere dein Elefantengedächtnis.«
»Du hast dir den Abend anders vorgestellt, vermute ich.«
»Kannst du mir erklären, was dieser Unbekannte aus dem Armageddon mit der Staatskanzlei zu tun haben soll?«
»Wir kriegen es raus. Falls Anna überhaupt mit ihrer Theorie richtig liegt.« Schmiedinger zog ein Kärtchen aus der Hemdtasche und griff nach dem Telefon.
»Was hast du vor?«, fragte Bruno.
»Vielleicht will Kollegin Winkler mitfahren.«
Bruno sah zu, wie der Bayer die Nummer in den Hotelapparat hackte und sich den Hörer ans Ohr drückte.
62.
Anna lief in die Küche, schnappte sich ihr Handy vom Tisch, und nahm das Gespräch an. Eine Stimme meldete sich, die ihr bekannt vorkam. Es war mittlerweile nach zweiundzwanzig Uhr.
»Du bist stets im Dienst, oder?«, bemerkte Sven, der ihr gefolgt war und nach dem Fisch sah, der im Herd schmurgelte.
»Gut, dass ich Sie erreiche«, sagte die Stimme und Anna fiel der zugehörige Name ein. Es war die Sekretärin ihres Vaters.
»Frau Cremers?«
»Ja. Ich habe gerade Nachricht bekommen von Ihrem Vater.«
Annas Herz schlug heftiger. Sie ballte die Faust. »Was ist los?«
»Offenbar ein Schlaganfall. Er liegt im Evangelischen Krankenhaus in der Kirchfeldstraße.«
»Und wie geht’s ihm?«
»Keine Ahnung.«
Anna bedankte sich und ließ das Mobiltelefon auf die Tischplatte sinken.
»Was ist?«, fragte Sven.
»Tut mir leid, aber ich muss los.«
»Bernd?«
Anna nickte.
»Schon wieder das Herz?«
»Nein, Schlaganfall.«
»Wenn es dir recht ist, komme ich mit.«
Anna nickte wieder und spürte, wie für einen Moment ihr Blutdruck absackte. Sven hielt sie fest.
Er steuerte den Golf und Anna war ihm dankbar dafür.
»Wieso Schlaganfall?«, murmelte Sven. »Das versteh ich nicht.«
Sie bogen in die Ellerstraße, unterquerten die Bahnlinie, ließen das Rotlichtviertel rechts liegen und rasten auf die Friedrichstadt zu. Es regnete wieder, der Mond war einer Wolkendecke gewichen, die im Widerschein der Stadt milchig wirkte.
»Heute Vormittag ging es ihm noch so gut«, bemerkte Sven.
Das war, bevor Thilo Becker ihn angerufen hat, dachte Anna. Zum Stress wegen der Buchprüfung bei der Deutschen Bergbau AG und zur Tretmühle des langen Wahlkampfs war nun auch noch der unsinnige Mordverdacht gekommen.
Sie hatte eine Heidenangst um ihn.
Ihr fiel ein, dass sie ihn selbst noch gestern Abend des Mordes an Michael Lohses Sohn beschuldigt hatte. Und heute Mittag hatte sie ihm wegen Jos Tagebüchern zugesetzt – sie selbst hatte zum Druck beigetragen.
Das Evangelische Krankenhaus war ein Betonklotz aus den Siebzigerjahren, der das gesamte Viertel überragte. Vor den Wohnhäusern an der Kirchfeldstraße war um diese Zeit kein Stellplatz frei. Sven lenkte den Golf kurzerhand auf die Zufahrt der Klinik.
Anna rannte hinein. Hinter der Empfangstheke plärrte ein tragbarer Fernseher. Ein Kerl stierte darauf, der so dick war, dass die Wülste seines Körpers bei der geringsten Bewegung sein Hemd zu sprengen drohten.
Sie klopfte gegen die Glasscheibe. »Wo finde ich Bernd Winkler? Er wurde heute eingeliefert.«
Der Blick des Fetten löste sich mühsam von der Zeitlupenwiederholung eines Fouls. Er schlug in einem großen Buch nach, das vor ihm lag, und sagte:
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