617 Grad Celsius
sich und warteten auf die Freigabe durch den Staatsanwalt.
Anna entdeckte den grau behaarten Körper des Videokünstlers Peter Uhlig. Die Leichen daneben wiesen ebenfalls schwere Verletzungen auf – die sieben Schwarzarbeiter aus der Ukraine.
Auf der gegenüberliegenden Seite lag Michael Lohse. Ohne Kleidung hatte sie ihn nie zuvor gesehen. Auf dem Schenkel eine Nummer mit rotem Filzstift – mit Kärtchen am großen Zeh arbeitete die Düsseldorfer Rechtsmedizin nicht.
Anna fragte sich, ob er den Kunstprofessor tatsächlich aus persönlichem Hass erschlagen hatte oder ob er von Uwe Strom dazu angestiftet worden war. Noch immer fiel es ihr schwer, in Lohse einen mehrfachen Mörder zu sehen. Lag es daran, dass er ihr leiblicher Vater war?
Michael war bleich und massig, das Gesicht wächsern und ohne jedes Anzeichen von Gewalteinwirkung, denn die Einschusswunde lag verborgen in der Mundhöhle. Rumpf und Schädel hatten die Werkzeuge des obduzierenden Arztes ganz offensichtlich noch nicht zu spüren bekommen.
So leblos kam der Mann ihr völlig fremd vor.
Du also bist mein Vater. Mein Papa.
Der halb geöffnete Mund ließ den Mann etwas debil wirken. Anna drückte den Unterkiefer hoch, doch er klappte wieder auf. Sie spürte, wie die Kälte durch ihre Jacke kroch, aber sie widerstand dem Impuls, vor dem Toten davonzulaufen.
Michael Lohse war ein Freund der Familie gewesen. Sein Sohn hatte ihr sehr nahe gestanden. Seine Frau hatte Anna gemocht. Aber ihn?
Karin hatte vieles weggesteckt. Daniel hatte sehr unter ihm gelitten. Wahrscheinlich hatte sein Vater es gut gemeint, aber meist nur das Gegenteil bewirkt. Michael Lohse – ein Spießer mit einem Hang zur Brutalität.
Anna wurde sich bewusst, dass ihr Urteil nicht wie eine Liebeserklärung klang.
Auch Bernd Winkler hatte viele Fehler. Und noch größere Probleme: mit dem Herzen und seinen Provisionsgeschäften. Anna ärgerte sich über den Verdacht, den sie gegen ihn gehegt hatte.
Die Worte ihres Onkels: Du bist ihm sehr ähnlich.
Ich habe nur einen Vater, entschied sie. Und dieser Tote hier ist es nicht.
Mit diesem Gedanken nahm sie Abschied von Michael Lohse.
59.
Sie fuhr zum Carlsplatz, um sich auf dem Markt einen Blumenstrauß binden zu lassen. Einen ganzen Arm voll Rosen in verschiedenen Farben als Antwort auf die Bitte ihres Vaters: Sag mir, dass du auch künftig meine Tochter bleibst .
Ja, Papa.
Sie würde zu ihm halten.
Auf der Fahrt nach Holzbüttgen geriet sie gleich hinter der Rheinkniebrücke in einen Stau. Der Feierabendverkehr schlich bis kurz vor dem Kaarster Kreuz im Schritttempo, eine Baustelle verengte die A 52 stadtauswärts auf zwei Spuren.
Es klarte auf, als sie endlich das Haus ihrer Eltern erreichte.
Picasso tobte hinter dem Glaseinsatz der Haustür vor Freude, als Anna aufschloss. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie den kleinen Köter in den letzten Tagen vernachlässigt hatte. Er sprang an ihr hoch und verfolgte sie in die Küche.
Während sie die Rosen anschnitt und in eine Vase stellte, apportierte das Tier die Leine.
»Hattest du Langeweile?«, fragte Anna, bückte sich nach ihm und schloss den Karabinerhaken ans Halsband. »Damit ist jetzt Schluss.«
Die Wege durch die Felder im Süden der Ortschaft waren schlammig. Deshalb führte Anna den Hund die Hasselstraße entlang und wählte am Ende den Mühlenweg, eine schmale Asphaltstraße, die zu einer Reihe von Bauernhöfen führte.
Weil ab und zu ein Auto vorbeifuhr, ließ sie Picasso angeleint. Immer wieder musste sie stehen bleiben – heute durfte der kleine Schnauzer das Tempo bestimmen. Wieder jagten Wolken über den Himmel, doch es blieb trocken. Die Chance, dass man in der Nacht das Schauspiel der Mondfinsternis beobachten konnte, hatten die Radionachrichten fifty-fifty eingestuft.
Auf der Höhe des Mühlenhofs empfing sie Güllegestank. Anna machte kehrt. Picasso kläffte ein herannahendes Moped an und versuchte, dem Fahrzeug in die Reifen zu beißen.
»Du musst mir nicht zeigen, dass du doch kein Weichei bist«, ermahnte ihn Anna, die Leine kurz nehmend. »Das Ding ist einfach ’ne Nummer zu groß für dich.«
Der Klingelton ihres Handys lenkte Annas Gedanken auf Wegmann und ihre gemeinsamen Ermittlungen.
Sie hatte richtig getippt. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen, saß der Kollege im Auto, vermutlich auf der Heimfahrt vom Präsidium. Anna fragte: »Habt ihr mit dem Kerl aus der Staatskanzlei gesprochen?«
»Fehlanzeige«, sagte Bruno.
Weitere Kostenlose Bücher