617 Grad Celsius
wie die Schwester der Kleinen im Hofgarten. Winkler packte ihre Hände und zog sie hoch. Keine Einstichstellen an den Armen. Noch nicht.
»Ab nach Hause«, befahl er.
Das Mädchen rannte hinaus und stolperte die Treppe hinunter.
Winkler bat Lohse, sich in Küche und Bad umzusehen. Dann drückte er Gregor Feist auf einen Stuhl, zog das eben verfasste Protokoll aus der Jackentasche und strich es auf dem Tisch glatt. »Hier unterschreiben!«
Der Kerl mit der runden Nickelbrille blinzelte ihn an.
Von nebenan kam ein Poltern. Lohse nahm die Küche auseinander.
Feist las und stellte fest: »Das ist doch alles erstunken und erlogen.«
Lohse wechselte ins Badezimmer. Der Radau nahm zu.
Winkler drohte: »Eigentlich hast du es verdient, im Knast zu verschimmeln.«
Der Kerl schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte. »Soll das ein Geständnis sein?«
»Nein, du bist lediglich Zeuge.«
»Gegen Edgar Schwab, den Popstar?«
»Gratuliere zur Beherrschung des Alphabets.«
»Scheiße.«
Schwere Schritte im Korridor. Lohse erschien mit einem dicken Packen in der Hand – Briefchen wie die im Park, aber vielleicht hundert Stück und fest in Folie gewickelt. Ein ganzes Pfund, schätzte Winkler.
»Die Verstecke sind immer die gleichen«, bellte sein Partner. »Bernd, das ist ein dicker Fisch!«
Feist rückte die Nickelbrille zurecht, ergriff den Kugelschreiber und kritzelte sein Autogramm.
»Schlauer Bursche«, lobte Winkler, steckte das Protokoll ein und klemmte das Rauschgiftbündel unter den Riemen seines Schulterholsters. Dann nahm er seinen Partner beim Arm und schob ihn aus der Wohnung.
»Was war das jetzt?«, fragte Lohse, als sie draußen den Käfer ansteuerten.
Keine fünfzig Meter entfernt stand eine Telefonzelle.
»Steig schon mal ein«, erwiderte Winkler.
In der Zelle hatte sich die Hitze des Tages gehalten. Winkler spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterrann. Er fand zwei Groschen und wählte Lohses Privatnummer. Karin ging nach dem zweiten Klingeln ran.
Winkler schielte zum Dienstkäfer hinüber. »Wegen heute Mittag …«
Sie fiel ihm ins Wort: »›Nichts überstürzen‹ – was soll das heißen?«
»Michael ist immerhin mein Partner.«
»Wann hast du das denn bemerkt?«
»Mensch, Karin, so funktioniert das nicht. Ich bin nicht für die Ehe gemacht.«
»Und ich nicht fürs Versteckspiel.«
»Wie du willst. Dann ist eben Schluss mit uns beiden.«
Er hängte ein.
Die Weiber mochten ihn und trotzdem hatte er nur Pech. Die eine ließ ihn sitzen und entführte das gemeinsame Baby nach Indien, die andere wollte mehr, als er ihr geben konnte.
Die letzten zwei Zehnpfennigmünzen. Winkler wählte die Nummer des Mannes, der Karrieren fördern und Karrieren beenden konnte. Der Singsang meldete sich.
»Es könnte klappen«, meldete Winkler.
»Freut mich, dass Sie sich richtig entschieden haben. Wie gehen Sie vor?«
»Kaufen Sie sich morgen den Blitz , dann wissen Sie Bescheid.«
»Wie gesagt, wir haben nie miteinander telefoniert.«
»Eine Frage habe ich aber noch. Welche Rückendeckung kann ich erwarten, wenn etwas schief läuft?«
»Sorgen Sie lieber dafür, dass alles klappt!«
»Hören Sie …«, begann Winkler, dann begriff er, dass der andere aufgelegt hatte.
Er stieg zu Lohse in den Käfer und startete den Motor.
»Wohin jetzt?«, fragte sein Partner.
»Reisholz, Industriegebiet.«
»Sagst du mir endlich, was diese Aktion soll? Läufst du Amok oder weißt du, was du tust?«
Winkler jagte den Käfer über die Kniebrücke, zurück auf die andere Seite des Flusses, und überlegte sich, was er dem Kollegen antworten sollte.
18.
Mai 2005
Anna unternahm mit ihrem Hund einen Spaziergang. Vor dem Haus begegnete sie einem Rentner mit Cordmütze, der einen Golden Retriever ausführte. Vorsichtshalber grüßte sie den Mann, der vielleicht ein Nachbar ihres Vaters war. Picasso zitterte, doch der Retriever nahm von ihm keine Notiz.
Von der Hasselstraße zweigte nach Südwesten ein Weg ab, der quer durch die Felder auf die Dörfer Driesch und Vorst zu führte. Anna ließ Picasso von der Leine, der sofort losgaloppierte. Ab und zu ein Gebüsch, an dem der kleine Schnauzer schnupperte und seine Duftmarke setzte.
Die Sonne ging ohne großen Feuerzauber hinter einer Wolkenbank unter, das Licht würde noch eine knappe Stunde halten. Annas Gedanken wanderten durch Zeiten und Länder. Sie versuchte, nicht über Daniels Tod und Karins Brief nachzugrübeln. Dafür holten sie die Erinnerungen an
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