617 Grad Celsius
den Einsatz in Bosnien ein.
Čapljina an der Neretva hatte sich als trostloses Kaff entpuppt, in dem abends um sechs die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Sie dachte an den verregneten Tag, als sie die Nachricht vom Herzanfall ihres Vaters erhalten hatte. Eine Razzia gegen angebliche Schmuggler im verminten Tal der Neretva war erfolglos gewesen. Vermutlich war die Bande gewarnt worden oder der Tippgeber hatte den Beamten einen bösen Streich gespielt. Die Stimmung unter den Kollegen war entsprechend mies gewesen, nur der örtliche Polizeichef hatte aufgeatmet – sein Vorgänger war von der Mafia ermordet worden und er selbst verspürte wenig Lust, den Gangstern auf die Füße zu steigen.
Der Chef der lokalen Polizei war zwar nicht korrupt, aber vorsichtshalber untätig. Trotzdem gab es immer wieder Anschläge. Anna hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, vor jedem Losfahren nachzusehen, ob jemand eine Handgranate unter den Dienstwagen gehängt hatte – booby trap, so nannte man die üblichen Sprengfallen, bei denen der Sicherungsstift irgendwo festgebunden wurde, damit er sich beim Losfahren aus der Granate löste.
Anna atmete tief durch. Das alles war vorbei.
Wie berechenbar war dagegen das Leben in Deutschland. Wenn in Düsseldorf ein Haus zusammenbrach, lag es vermutlich an einer defekten Gasflasche. Schlimm genug, dass Menschen dabei starben.
Am Wasserwerk bog Anna ab, um wieder nach Holzbüttgen zu gelangen. Der letzte Rest des Tageslichts erlosch gerade am westlichen Himmel und ein gelbliches Glimmen wurde im Osten sichtbar, wo Düsseldorf lag. Picasso war bereits in Richtung Vorst weitergelaufen. Ungläubig wandte er den Kopf, dann wetzte er wie ein Kugelblitz zurück.
Kurz vor den ersten Häusern blieb der Zwergschnauzer plötzlich stehen. Zwei Mädchen kamen entgegen, eine von ihnen führte einen großen Köter, der nach Rottweiler aussah und kräftig an der Leine zog. »Der tut nichts«, sagte eins der Mädchen.
Picasso wich zurück und glaubte offenbar nicht daran. Anna nahm ihn auf den Arm. »Weichei«, zischte sie in sein Ohr.
Sie zappte durch das Fernsehprogramm. Das Explosionsunglück in Düsseldorf war den Tagesthemen eine dreißigsekündige Erwähnung im Nachrichtenteil wert: Bilder des Trümmerbergs, Feuerwehrleute und zugedeckte Leichen.
Anna dachte an die Kollegen, die zur Stunde noch mit der Auswertung des Materials beschäftigt waren, das bei der Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume des Hausbesitzers beschlagnahmt worden war. Bauunternehmer Gehring hatte sich bestürzt gezeigt. Schwer zu sagen, was ihm mehr zu schaffen machte: der Tod seiner Schwarzarbeiter oder die Ermittlungen wegen seiner Geschäftspraktiken.
Sie zog sich in ihr Zimmer zurück. Auf dem Stuhl türmten sich die Klamotten. Anna beschloss aufzuräumen. Dabei fiel ihr der Karton in die Hände, den Jo ihr gestern mitgegeben hatte.
Das Päckchen mit Briefpapier, das obenauf lag, stammte tatsächlich aus einer Manufaktur in Amalfi. Dicke Bögen voller Einschlüsse zartbunter Blütenblätter – viel zu edel, um sie zu benutzen. Darunter ein Etui. Anna zog einen Montblanc-Füller hervor und wusste, dass sie auch ihn nie in Gebrauch nehmen würde, denn sie neigte dazu, ihr Schreibgerät zu verlegen.
Drei alte Hefte lagen auf dem Grund der Schachtel.
Anna schlug eins davon auf. Reisenotizen ihrer Mutter, offenbar eine Art Tagebuch. Die Eintragungen begannen in einer Zeit, als sich die Eltern noch gar nicht gekannt hatten. Jo hatte mit Freunden eine Reise im VW-Bus quer durch Asien unternommen. Anna blätterte und überlegte, dass es heutzutage unmöglich wäre, die gleiche Route abzufahren.
Penibel hatte ihre Mutter die Kosten für Guest Houses im Iran notiert und Wanzenstiche nach einer Nacht in Kabul aufgezählt. Ein LSD-Trip in Goa war vermerkt, von dem Jo speiübel geworden war.
Anna verstaute die Hefte im Nachtkästchen und schluckte zwei Schlaftabletten.
Die letzten in der Schachtel.
Mitten in der Nacht schreckte Anna aus dem Schlaf. Wieder war das Klingeln ihres Handys der Grund. Ein Beamter der Leitstelle.
»Stimmt es, dass du Mordbereitschaft hast?«, wollte der Kollege wissen.
Mit Mühe stellten sich Annas Augen scharf: Die Leuchtziffern am Radiowecker zeigten 4.26 Uhr. Draußen herrschte schwarze Nacht. Anna hatte nichts als kratzige Wollknäuel im Schädel. Alles schwankte – das Noctumed hatte seine Wirkung längst noch nicht eingestellt.
Sie hätte das Mittel vielleicht nicht nehmen
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