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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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die Arbeit und die Arbeit braucht mich.«
    Sie umarmte ihn und versuchte, sich an das Gefühl zu erinnern, als er ihr noch keine Sorgen bereitet hatte. »Sei vorsichtig«, sagte sie.
    »Du bist auch dünner geworden«, stellte Winkler fest.
    Anna warf einen Blick auf die Artikel, die er aussortiert hatte. Es ging um sein Hauptanliegen, die heimische Steinkohle und das Wohl der Menschen im Ruhrgebiet. Die geplante neue Zeche: Die Deutsche Bergbau AG verlangte öffentliche Förderung. Nicht als Subvention, sondern als Anschubfinanzierung. Anna fragte sich, worin der Unterschied lag.
    Winkler schob die Zeitungen beiseite und fragte: »Hast du dich schon ein wenig eingelebt?«
    »Lutz hat geheiratet.«
    »Warum musstest du mit dem Jungen Schluss machen? Er war in Ordnung und aus gutem Haus. Ich kenne seinen Vater recht gut. Du hast einen Fehler begangen.«
    Sie reagierte nicht darauf, sondern ging in die Küche und bereitete ein kleines Abendessen. Diätwurst, Vollkornbrot und Kräutertee – Dinge, die ihrem Vater gut tun sollten: cholesterinfrei, kalorienarm, reich an Ballaststoffen.
    Picasso lief herbei und stellte sich bettelnd auf die Hinterpfoten.
    Winkler packte seine Medikamente aus. »Aspirin, Betablocker, ACE-Hemmer. Das Zeug muss ich vermutlich für den Rest meines Lebens schlucken.«
    Beim Essen berichtete Anna von ihrem Besuch in der Suchtklinik. Vom Rückfall ihrer Mutter und wie hinfällig sie gewirkt hatte.
    Danach kamen sie auf die Explosion in der Schützenstraße zu sprechen – ihr Vater hatte bereits mit seinem alten Freund Lohse telefoniert.
    »Ich war schockiert, als ich Michael sah«, sagte Anna.
    »Weißt du, auch wenn die Ehe nach Daniels Tod hoffnungslos den Bach runterging, ist Karin doch immer Michaels große Liebe gewesen. Bis zuletzt.«
    »Er bräuchte eine Kur. Am besten eine Therapie.«
    »Sag ihm das und er springt dir ins Gesicht. In seinen Augen sind Kuren nur etwas für Weicheier.«
    Picasso winselte. Winkler warf ihm ein Stück Wurstbrot hin.
    »Ich fürchte, du hast den Köter hoffnungslos verwöhnt«, sagte Anna.
    »Du siehst übrigens auch urlaubsbedürftig aus.«
    »Urlaub? Das geht jetzt nicht.«
    »Da bist du offenbar ganz wie Michael.«
    »Karin hat mir vor ihrem Tod geschrieben. Sie machte sich Sorgen, dass Odenthal vielleicht unschuldig sei. Dass er nur wegen ihrer Aussage weggesperrt worden ist. Ich fange auch an, mir darüber Gedanken zu machen.«
    »Unsinn! Ihr hattet immerhin sein Geständnis und zuletzt hat sein Mitbewohner zugegeben, dass Odenthals Alibi auf einer Gefälligkeitsaussage beruhte. Was willst du mehr?«
    Anna kraulte Picasso, der sich gegen ihr Bein drängte. »Ich wusste nicht, dass Karin im Prozess gelogen hat, als sie Odenthal belastete.«
    »Was heißt ›gelogen‹?«
    »Daniel hat sich zwar bedroht gefühlt, aber er hat seiner Mutter keinen konkreten Namen genannt.«
    Winkler deutete eine wegwerfende Handbewegung an – für ihn war die Geschichte abgeschlossen. Anna wäre froh gewesen, wenn sie es sich ebenso einfach hätte machen können.
    »Erzähl mir von Bosnien, Prinzessin.«
    »Ein anderes Mal. Ich bin müde.«
    Anna begann, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
    Plötzlich schlug ihr Vater mit der Hand auf den Tisch und brummte: »Ich habe nie verstanden, warum du zur Polizei gegangen bist. Du könntest jetzt in London sitzen und mit Aktienfonds jonglieren. Du würdest das Zehnfache verdienen. Weißt du noch, diese Stelle bei der WestLB, die ich dir besorgt hatte? Wer damals als Trainee begonnen hat, ist heute auf dem besten Weg ins Topmanagement.«
    »Papa, das haben wir alles oft genug diskutiert.«
    »Aber ich seh dir doch an, dass du nicht glücklich bist.«
    »Misch dich nicht in meine Angelegenheiten!«
    Im nächsten Augenblick tat ihr der Ton leid, den sie angeschlagen hatte. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Der alte Herr meinte es gut. Er war ihr Vater.
    Und er hatte gerade erst einen Herzinfarkt überstanden.

17.
    September 1976
    Bernd Winkler pochte gegen die Wohnungstür. Sein Partner zog die Waffe und schnaufte deutlich hörbar, als wolle er dadurch seine Missbilligung ausdrücken.
    Ein Mittvierziger mit Aknenarben und John-Lennon-Brille öffnete.
    Winkler fragte: »Gregor Feist?«
    »Und wer will das wissen?«
    »Polizei.«
    Mit erhobenem Dienstausweis schob sich Winkler an dem Mann vorbei und fand in dem einzigen Zimmer des Apartments ein Mädchen, das auf dem Flokati kauernd LP-Alben durchwühlte. Es sah aus

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