617 Grad Celsius
eingestürzten Haus geborgen worden war, auf der neurochirurgischen Intensivstation lag.
Dort teilte ihr eine Krankenschwester den Befund mit: mehrere Knochenbrüche und eine Schädelverletzung, die zur Einblutung geführt und auf das Gehirn gedrückt hatte. Der Patient war noch rechtzeitig operiert worden, bleibende Schäden schlossen die Ärzte aus.
»Sie sollten einen Blick auf seine Habe werfen«, sagte die Pflegekraft. Ihr Kittel ließ ihre Oberarme unbedeckt. Sie waren mit Drachenmotiven tätowiert.
»Ich dachte, er hatte nichts bei sich.«
»Doch.«
Die Schwester schloss einen Schrank auf und holte eine Tüte hervor. Anna ließ sich Einweghandschuhe geben, bevor sie den Inhalt studierte. Es waren drei Pässe und ein Bündel Bargeld, geschätzte fünftausend Euro.
Die Ausweise stammten aus Bulgarien, Weißrussland und der Republik Moldau. Keiner von ihnen war für einen Mann ausgestellt. Die Geburtsdaten lagen in den späten Siebzigern, Frauen in Annas Alter.
»Was hatte er an, als er eingeliefert wurde?«
Die Schwester zeigte auf einen schwarzen Trainingsanzug von Adidas, staubig und blutbefleckt. Anna packte ihn in die Tüte, um ihn ebenfalls sicherzustellen. Sie erinnerte sich an die Aussage der Nachbarin: Kurz vor der Explosion hatte ein schwarz gekleideter junger Mann in ein Auto gelugt und anschließend das Haus Nummer 18 betreten.
»Hat er etwas gesagt?«, fragte sie.
»Nur dass er Jadranko heißt und einundzwanzig Jahre alt ist. Er ist erst seit kurzem einigermaßen ansprechbar. Ich bitte Sie, ihn nicht zu überfordern. Ein oder zwei Minuten höchstens. Es fällt ihm noch schwer, sich zu konzentrieren.«
Anna betrat das Zimmer, das ihr die Krankenschwester zeigte. Das zweite Bett war unbelegt, worüber Anna froh war – kein Neugieriger, der lauschte und sich womöglich an die Presse wandte.
Der Junge lag mit verbundenem Kopf und eingegipstem Bein unter einer dünnen Bettdecke. Seine Wangen waren gerötet. Anna zog ihre Lederjacke aus und rückte den Besucherstuhl ans Bett.
»Guten Morgen, Jadranko. Ein schöner Name. Wo kommst du her?«
Die Antwort kam etwas schleppend. »M-Mostar.«
»Du wurdest aus einem Haus gerettet, das eingestürzt ist. Erinnerst du dich?«
»Wer sind Sie?«
Der Junge war vielleicht langsam, aber er schien hellwach zu sein. Anna antwortete: »Ich heiße Anna Winkler und untersuche das Unglück, bei dem du verletzt wurdest.«
»Po-Polizei?«
»Ja. Was hast du in dem Haus gemacht?«
Jadranko deutete ein Kopfschütteln an.
Anna wollte nicht an eine Gedächtnislücke glauben. Sie beschloss, ein wenig Smalltalk zu machen, damit er auftaute. »Ich kenne Mostar. Ich habe ein Jahr lang in der Nähe gelebt. Die Brücke ist wunderschön, seit sie wieder aufgebaut ist.«
»Stari Most.«
»Ich habe die jungen Männer gesehen, die von dort in die Neretva springen. Es ist ziemlich hoch. Sie veranstalten Wettbewerbe.«
»Bin auch Springer.«
»Warst du bei der Einweihung dabei?«
»Nein. Seit K-Krieg in Deutschland. Schon zwölf Jahre. Bin gesprungen als K-K-K…«
»Als Kind? Du musst sehr mutig sein.«
»Mit Kopf voraus.«
Genug Geplänkel, dachte Anna. »Was sind das für Pässe, die du vorletzte Nacht bei dir hattest?«
Der Junge schwieg.
»Was hast du in diesem Haus gemacht?«
Keine Antwort.
»Die Gasleitung war aufgeschraubt. Hast du das getan?«
Jadranko schloss die Augen.
»Was war das für ein Auto vor dem Haus? Die Scheinwerfer brannten. Ich weiß, dass du dich für das Auto interessiert hast.«
Der Junge drehte das Gesicht zur Wand.
Anna hob die Stimme: »Hör zu, Jadranko, wenn du nicht möchtest, dass du vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis kommst, solltest du meine Fragen beantworten. Weißt du, woran ich bei diesen Pässen denke? Das riecht verdammt nach Frauenhandel. Wenn du nicht kooperierst, gebe ich die Sache dem zuständigen Kommissariat für Organisierte Kriminalität. Und die gehen damit an die Presse. Mal sehen, was sich dann tut.«
»K-k-keine P-Presse!«
»Was hast du in dem Haus gemacht?«
Wieder schwieg Jadranko.
Anna griff nach ihrer Jacke und stand auf. »Ich gebe dir bis morgen Zeit.«
Im Personalraum fand sie die Schwester mit den Drachentattoos und bat sie, keinen Besuch zu Jadranko vorzulassen und der Polizei alle Versuche einer Kontaktaufnahme zu melden. Die Frau nahm ihre Visitenkarte zwar entgegen, doch Anna erkannte, dass sie wenig Lust hatte, sich als Hilfspolizistin einspannen zu lassen.
24.
Zwei Stunden später
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