617 Grad Celsius
saß Anna im Geschäftszimmer des Kommissariats und nippte von dem Kaffee, den Nora, die Angestellte, frisch gebrüht hatte. Die Sitzung der Mordkommission im großen Konferenzraum im vierten Stock war für zwölf Uhr anberaumt. Anna hatte noch ein paar Minuten Luft und blätterte die Zeitungen durch.
Die Morgenpost: MINDESTENS SIEBEN TOTE BEI EXPLOSION IN DÜSSELDORF!
Der Blitz: ANSCHLAG IM ZENTRUM DER LANDESHAUPTSTADT!
Anna überflog die Artikel – sie beinhalteten nichts, was sie nicht schon wusste. Ein Foto zeigte ein Bügeleisen, dessen Kabel sich in einem Baum verfangen hatte. Es musste einem der ukrainischen Arbeiter gehört haben.
Nora sagte: »Bevor ich’s vergesse: Kannst du bitte den Fragebogen bis Freitag ausfüllen? Es geht um eine allgemeine Bewertung der Arbeitsbedingungen.«
Anna nahm die Blätter entgegen, warf einen Blick darauf und antwortete: »Wie soll ich das beurteilen? Ich war zwölf Monate lang weg.«
»Du weißt, wie es vorher war. Es hat sich nichts geändert.«
Ela Bach trat aus ihrem Büro, einen dünnen Ordner unter ihrem Arm. Sie fragte: »Was macht die Wohnungssuche?«
Anna hatte den Besichtigungstermin schon völlig vergessen. Sie nahm sich vor, ihn aus Zeitmangel abzusagen, und antwortete: »Ritter hat mich zurückgerufen. Mal sehen, ob er das Richtige für mich findet.«
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach oben. Auf der Treppe erzählte Bach: »Mit seinen Nebenjobs verdient Ritter mehr, als er an Gehalt bezieht. Ein pfiffiger Bursche.«
»Offenbar hat er viel Zeit.«
Ela lachte. »Oder er muss Alimente für zu viele Kinder bezahlen.«
Abgestandene Luft im Konferenzraum, Anna riss ein paar Fenster auf. Nach und nach trafen die Kollegen ein, darunter auch Michael Lohse, der es offenbar nicht lange zu Hause ausgehalten hatte. Immel vom KK 14 fehlte und auch Jonas Freyer ließ sich nicht blicken – vielleicht waren die beiden mit dem neuen Brandfall beschäftigt. Zuletzt betraten Blondschopf Becker und der Staatsanwalt den Saal, gerade zurück von der Obduktion.
Ela Bach eröffnete die Sitzung: »Thilo, was sagt die Rechtsmedizin?«
Becker antwortete: »Es wird schwierig werden festzustellen, woran der Mann gestorben ist. Auf den ersten Blick ist kein Staub in der Lunge zu erkennen, was dafür sprechen könnte, dass er schon vor der Explosion tot war. Es wird noch überprüft, ob er Erdgas eingeatmet hat. Vielleicht gelingt es, den Riechstoff THT in der Lunge nachzuweisen. Letztlich muss die feingewebliche Untersuchung abgewartet werden. Das Problem ist, dass die Gewalt durch herabstürzendes Gemäuer so massiv war, dass sie laut unserem Professor auch nach Eintritt des Todes noch dazu führen konnte, dass Blut ins Gewebe eindrang. Zum Beispiel hat er Einblutungen in die Kopfschwarte gefunden. Trotzdem kann das Herz schon vorher stillgestanden haben. Der Onkel Doktor will sich erst sämtliche Wundränder unter dem Mikroskop anschauen. Vorher legt er sich nicht fest. Und das wird rund drei Tage dauern.«
Die KK-11-Chefin spielte mit einer nicht angezündeten Zigarette. Sie bedankte sich bei Thilo und sagte: »Kollegin Winkler war in den frühen Morgenstunden dabei, als die achte Leiche geborgen wurde. Sie kommt gerade von der Kriminaltechnik und hat ein paar interessante Neuigkeiten mitgebracht.«
Anna schilderte das Spurenbild am Tatort Schützenstraße. Die Runde lauschte gespannt. Becker blickte sie skeptisch an. Wegmann wippte in seinem Stuhl. Michael Lohse spielte mit seinem Kugelschreiber und drohte, jeden Moment einzunicken. Der Staatsanwalt kritzelte Notizen.
Anna verteilte Ausdrucke ihrer Fotoaufnahmen von Tatort, Leiche und Beweismitteln. Dabei erklärte sie: »Die Teelichter waren offenbar die Zündquellen. Sie brannten zum Zeitpunkt der Explosion. Zunächst hielten wir trotzdem einen Suizid für möglich, denn die Tür des Kellerraums war mit Klebeband abgedichtet. Aber genau diese Tür widerspricht der Selbstmordthese.«
»Inwiefern?«, wollte der Staatsanwalt wissen.
»Sie stand offen, als das Haus in die Luft flog, und bot der Druckwelle keinen Widerstand. Sonst wäre sie nämlich verbogen und herausgefetzt worden. Andere Türen wurden bis ins Nachbarhaus geschleudert. Das Klebeband kann also nur dem Zweck gedient haben, einen Selbstmord vorzutäuschen.«
»Das heißt, wir müssen Mord in Betracht ziehen«, konstatierte KK-11-Chefin Bach trocken.
Becker fragte: »Warum sollte sich der Täter die Mühe mit dem Klebeband geben und dann beim
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