617 Grad Celsius
Edgar sollte aus dem Weg geräumt werden. Man hat sein Leben zerstört. Ja, man hat ihn gewissermaßen ermordet.«
»Haben Sie Beweise dafür?«, fragte die Stimme der Reporterin aus dem Off.
»Nein, noch nicht, aber ich weiß, dass es so war, und irgendwann werde ich Beweise präsentieren können.«
Ein harter Schnitt auf die Bühnenshow des Münchner Konzerts von 1976 – Edgar Schwab auf dem Höhepunkt seiner Popularität und kurz vor seinem Absturz. Nebel waberte zwischen den Musikern, zuckende Lichter, pyrotechnischer Zauber und ein goldenes Ufo, das unter der Hallendecke schwebte.
Schwab stand darin, halb nackt und den Kopf mit einem weißen Tuch umwickelt wie ein Kamikaze-Flieger. Seine Stimme schraubte sich hoch, fast ein Kreischen:
Schwarze Flammen greifen nach mir
Ich brenne – vor Gier nach dir.
Die Kamera ging in die Totale. Schlusssätze aus dem Off. Die Autorin salbaderte von Mythen und Legenden, die sich stets um zu jung gestorbene Stars rankten. Schwab und seine Band hätten Musikgeschichte geschrieben.
Der Abspann nannte noch einmal den Namen der Reporterin. Anna zog ein Telefon zu sich heran. Die Auskunft gab ihr die Nummer der WDR-Zentrale in Köln. Nach langem Klingeln meldete sich ein Pförtner und verband sie mit der Personalabteilung. Anna sagte ihren Spruch auf und wurde erneut mit der Warteschleife verbunden. Die Melodie der Sendung mit der Maus.
Das Handy schlug an. Anna hielt es an ihr freies Ohr.
Bruno Wegmann sagte: »Ich hab schon mal einen Wagen besorgt und warte unten im Hof.«
»Danke. Eine Minute.«
Am anderen Ohr tönte eine Männerstimme aus dem Hörer. »Honorare und Lizenzen.«
»Ich wollte die Personalabteilung.«
»Wegen Rebecca Carstensen?«
»Ja.«
In breitem Kölner Dialekt erklärte der Angestellte, dass er zuständig sei, weil Frau Carstensen in den Unterlagen als freie Mitarbeiterin geführt werde. Seit mehr als vier Jahren habe sie allerdings nichts mehr produziert, ihre Telefonnummer und Postanschrift könnten veraltet sein. Der Mann gab sie durch.
Anna bedankte sich. Dann wählte sie die Nummer der Reporterin.
Vom Band des Anrufbeantworters kam die Stimme, die Anna von der Dokumentation über Schwab kannte. Sie erzählte von einer Reise und nannte für dringende Fälle eine Mobilfunknummer.
38.
Der Kunstpalast war Teil eines lang gestreckten Komplexes, der in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts nördlich des Stadtzentrums für eine Messe errichtet worden war. Im Baustil glich er dem Präsidium, ein abweisendes Gemäuer, das man für Naziarchitektur halten konnte.
Das Museum war geschlossen. Ein Transparent über dem Eingang warb für die Ausstellung, die morgen starten sollte: Einsichten, Standpunkte – Retrospektive Peter Uhlig .
Anna musste mit der Verwaltung telefonieren, bis ein älterer Typ im Jeansanzug erschien und die Glastür von innen aufschloss.
Sie fragte ihn nach Timo Ziegler, dem Studenten, der nach Auskunft der Akademie als Uhligs Assistent gearbeitet hatte. Der Typ wies zum Durchgang seitlich der Kasse und brummelte: »Der Videomann? Hier im Erdgeschoss.«
Mit Wegmann im Schlepptau betrat Anna den ersten Saal. Zweimal waren hier alte Fernseher in Holzverkleidung zu einer Treppe gestapelt. Links rauschte ein endloser Wasserfall, rechts stieg eine nackte Frau Stufe für Stufe hinab, um danach auf dem obersten Bildschirm wieder aufzutauchen.
Der anschließende Raum war abgedunkelt und schwarz ausgekleidet. Auf Kugeln, die in unterschiedlichen Höhen von der Decke hingen, wurden von irgendwoher Bilder von Augäpfeln projiziert. Anna bemerkte, dass sie ab und zu zwinkerten. Es wirkte gespenstisch: Big brother is watching you.
»Herr Ziegler?«, rief sie.
»Ja!«, kam die Antwort von nebenan.
Die beiden Kripoleute schritten durch einen Vorhang in einen blendend weißen Raum. Ein junger Kerl stand auf einer Leiter und hantierte an einem Projektor. Sein rasierter Schädel glänzte. Er trug eine weite Hose in grün-braunem Tarnmuster und ein T-Shirt mit der Aufschrift Lifeguard.
Anna und Wegmann zeigten ihre Dienstausweise und stellten sich vor.
»Timo Ziegler?«, fragte Anna dann.
Der Kahlrasierte antwortete mit einem Nicken, das in ein Kopfschütteln überging. »Unfassbar. Ich hab’s heute Morgen im Radio gehört. Am Wochenende haben wir noch gemeinsam am Aufbau gearbeitet. Er wollte das Material für diesen Raum noch ein wenig bearbeiten und auf Datenträger überspielen. Jetzt ist es vernichtet. Und Peter ist
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