617 Grad Celsius
tot.«
»Was war das für Material?«
»Sicher weiß ich es nicht. Aber ich nehme an, es war eine Überarbeitung von dem, was ich jetzt hier verwende. Der Titel lautet: Zeugen der Anklage. Wollen Sie es sehen?«
»Bitte.«
Ziegler schraubte die Abdeckung fest, kletterte von der Leiter und verschwand in einem Nebenraum.
Das Deckenlicht wurde schwächer. Zwei weiße Rechtecke leuchteten an gegenüberliegenden Wänden auf. Links erschien Daniel, nackt auf einem Stuhl ohne Lehne. Nach einer Weile schlug er die Augen auf und sagte: »Du hast mich erobert. Du hast mich zerstört.«
An der rechten Wand zeichneten sich die Konturen einer Frau ab. Es war Karin, nackt wie ihr Sohn, den sie zu fixieren schien. Sie wiederholte die gleichen Sätze. Dann sprachen sie fast gleichzeitig – Karin bildete das Echo ihres Sohns. Dabei bemerkte Anna, dass Daniels Worte nicht ganz lippensynchron kamen. Es war auch nicht seine Stimme.
Nach einer Schwarzblende von einigen Sekunden erschienen in rascher Folge Bilder, die Edgar Schwab zeigten und Anna an den Film erinnerten, den sie erst vor einer halben Stunde betrachtet hatte.
Dann wieder Daniel und seine Mutter. Beide lagen dem Betrachter abgewandt. Auf die Rücken wurde Schrift projiziert: Bekenne dich.
Wegmann raunte: »Ist das nicht die Mutter von Daniel Lohse?«
Mein Vater hat sie erobert, dachte Anna. Er hat sich nie dazu bekannt.
Die Show begann von vorn. Karin und ihr Sohn auf ihren Hockern sitzend. Eine neue Strophe: »Du hast mich penetriert. Du hast mich vernichtet.«
»Nicht synchron«, bemerkte Wegmann und deutete auf Daniel.
Ziegler kehrte zurück und erklärte: »So geht es in zahlreichen Abwandlungen fast eine Stunde lang weiter. Diese Spannung, diese Intensität! Zweifellos der Höhepunkt im Werk Peter Uhligs. Dazwischen werden Gedichte rezitiert, in denen es um das gesamte Spannungsfeld von Liebe und Tod geht. Shakespeare, Beaudelaire, Edgar Schwab. Sie wissen, wer Schwab war?«
»Der Chef von Osiris Trance, die Mitte der Siebzigerjahre sehr erfolgreich waren«, antwortete Anna. »Uns ist aufgefallen, dass Daniel Lohse nicht selbst spricht. Er wurde synchronisiert.«
»Ja, das ist Peters Stimme.«
»Ursprünglich sagte Daniel etwas anderes. Uhlig hat ihm neue Sätze in den Mund gelegt.«
»Mag sein. Bei den Aufnahmen war ich nicht dabei. Ich kenne nur diese Fassung. Die Frau kam etwa vor zwei oder drei Monaten ins Spiel. Eine brillante Idee, diese Verdopplung, finden Sie nicht? Interaktion als Illusion.«
»Es ist Daniels Mutter.«
»Faszinierend.«
»Dem Mörder hat es offenbar gar nicht gefallen.«
»Weiß man schon, wer es war?«
»Erzählen Sie uns von Peter Uhlig.«
»Er war einer der Pioniere der Videokunst, wenn auch nie so bekannt wie Vostell, Bruce Nauman oder Nam June Paik. In den Anfangsjahren ging es um das Aufbrechen der vertrauten Grenzen der Kunst im Zusammenhang mit der Popkultur. Readymades aus Zitaten der Massenunterhaltung und Warenwelt. Später kam die Entlarvung der medialen Instrumente von Täuschung und Manipulation hinzu. Spiel und politische Aussage – Peter hat sich immer zwischen beiden Polen bewegt. Heute hat es Videokunst zugegebenermaßen schwer. Die Leute sind gesättigt. Überall flimmert es. Kein Ort mehr ohne Bildschirme und Kameras. Trotzdem wird man noch in Jahrzehnten von Peter Uhlig reden.«
Vor allem morgen, wenn sein Name in den Zeitungen steht, dachte Anna. Die Schaulustigen werden in Massen zur Eröffnung strömen. Sie fragte: »Und wie war er als Mensch?«
»Zurückgezogen, still. Was nicht heißt, dass er nicht auch mal einen Wutanfall bekommen konnte.«
»Bei welchen Gelegenheiten?«
»Wenn die Technik versagt hat. Wenn ein Kunststudent esoterische Sprüche klopfte, das mochte er überhaupt nicht. Und er schimpfte gern auf die Politik.«
»War er rechtsradikal eingestellt?«
»Im Gegenteil. Ich weiß, dass es da mal Gerüchte gab, aber da war nichts dran.«
Wegmann deutete auf die Projektionen an der Wand. »Hat er mit ihr geschlafen oder nur mit ihm?«
»Sie fragen vielleicht Sachen! Wie gesagt, ich war bei den Aufnahmen nicht dabei. Aber ich denke, weder noch. Peter hatte einen festen Freund.«
Anna fragte: »Wissen Sie, worauf sich der Titel bezieht?«
»Zeugen der Anklage? Klingt fast wie ein Hollywoodfilm. Aber im Ernst. Ich fand den Titel auf einem Zettel, der den Datenträgern beilag. Ich bin leider nicht mehr dazu gekommen, mit Peter darüber zu sprechen.«
Als sie ins Freie traten,
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