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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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einer Plastikleine aufgeknüpft. Die Schlinge schnitt tief in die Fußgelenke. Die gelbe Schnur war über den Stahlträger geführt und um ein Wasserrohr gewickelt, das unter einem Waschbecken voller Pinsel aus der Giebelwand trat.
    Ein fetter, blau glänzender Brummer landete auf dem bräunlichen angetrockneten Film, der den Toten bedeckte, und hatte Mühe, wieder loszukommen. Als er die Leiche weiter umkreiste, fiel Annas Blick auf Daniels Genitalien.
    Verstümmelt. Fetzen von Haut und Fleisch. Tiefe Wunden voller weißlicher Maden, die sich krümmten und ins Fleisch bohrten. Anna kämpfte gegen die Übelkeit, die in ihr aufzusteigen drohte.
    »Du bist ja ganz blass«, konstatierte Ritter. »Noch nicht lange dabei?«
    »Arschloch.«
    In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie nicht dazu in der Lage sein würde, Karin und Michael Lohse zu benachrichtigen.
    Sie blickte sich um. Ein einzelnes Sektglas und eine leere Flasche auf dem Tisch. Das Bett ungemacht, Bücherstapel ringsum, einige davon umgekippt. Eine Glasscherbe neben einem Bettpfosten.
    Dann bemerkte Anna die Abdrücke von Sohlen. Jemand war in das Blut getappt und hatte Spuren hinterlassen, die sich in Richtung Tür verloren.
    Ritter deutete auf die Leiche, wo sich die dicke Fliege erneut niedergelassen hatte. Sie flatterte unter lautem Gesumme und kam nicht von der Stelle. »Der Täter hat die Haut mit Blut beschmiert«, konstatierte Ritter.
    »Wie krank muss so ein Typ sein?«
    »Vielleicht sieht er sich ebenfalls als Künstler.«
    Plötzlich nahm Anna ein Kratzen hinter der Tür wahr, die zur Toilette führte.
    Auch ihr Kollege hatte es bemerkt. Er zog die Waffe, stellte die Füße in Schulterbreite auseinander, beugte die Knie und umklammerte den Pistolengriff mit beiden Händen.
    »Hast du dort noch nicht nachgesehen?«, flüsterte Anna.
    Ritter schüttelte den Kopf. Jetzt war auch er blass geworden.
    Anna schlich zur Ziegelmauer und näherte sich der Tür von der Seite. Sie streckte die Hand aus und griff nach der Klinke, bemüht, dem Kollegen das Schussfeld nicht zu verdecken. Hoffentlich war Ritter in Übung.
    Der K-Wachen-Mann nickte.
    Sie riss die Tür auf.
    Ein kleiner Köter schoss aus dem Toilettenverschlag. Ein Putzeimer kippte um, eine Rolle Klopapier folgte dem Hund, sich dabei abwickelnd. Das Tier baute sich vor Anna auf und kläffte. Schwarz mit weißen Pfoten und struppigem Bart, nicht viel höher als dreißig Zentimeter.
    Anna streckte lockend ihre Hand aus. Sie wusste, dass sie nicht besonders einladend wirkte im weißen Plastikoverall, mit Überziehern an den Schuhen, Kopfhaube und Handschuhen.
    Der Hund kam näher, dann wich er ruckartig zurück, wirbelte herum und raste quer durch die Blutlache. Er beschrieb einen Bogen um den Toten und bellte ihn an.
    »Verdammt!«, rief Anna. »Er macht uns die Spuren kaputt!«
    Ritter zielte noch immer auf das Tier.
    Anna fiel der Name ein, den Karin erwähnt hatte. »Picasso!«
    Der Hund trottete näher, blutige Pfotenabdrucke hinterlassend. Schließlich schnupperte er an Annas ausgestreckter Hand und ließ sich auf den Arm nehmen.
    Ritter verstaute die P6 wieder im Holster. »Was jetzt?«
    Anna fragte: »Wo steckt dein Partner?«
    »Befragt den Typen aus dem Café im Vorderhaus, der den Toten entdeckt hat.«
    Schwere Schritte näherten sich auf der Treppe. Zwei Uniformierte erschienen in der Tür, die Ritter angefordert hatte, damit sie den Tatort sicherten.
    Anna entschied: »Dann sollten wir uns auch mal umhören. Vielleicht gibt es Nachbarn, die Besuch gesehen oder Streit gehört haben. Ein fremdes Auto, das im Hof parkte. Irgendetwas in dieser Art.«
    »Wann, schätzt du, ist es passiert?«
    »Letzte Nacht, vielleicht auch gestern.« Sie wandte sich zum Gehen.
    Auf dem Weg nach draußen machte Ritter sie auf die Staffelei aufmerksam. »Sieht dir verdammt ähnlich«, sagte er.
    Eine gerahmte Leinwand lehnte in der Halterung. Ein Porträt, fast vollendet. Anna erkannte sofort, nach welchem Foto Daniel es gemalt hatte. Der kleine Hund in ihrem Arm winselte und sie wusste, dass sie es keine Sekunde länger in diesem Raum aushielt.
    Sie rannte die Treppe hinunter und schloss das Vieh in ihrem Auto ein, das im Hof stand. Picasso kratzte am Fenster und hielt den Kopf schief.
    Anna konnte sich nicht mehr zügeln. Sich die Wut von der Seele heulend, schwor sie, alles dafür zu tun, um den Mörder des jungen Malers der Strafe zuzuführen, die er verdiente.

36.
    Mai 2005
    Zehn Minuten nach sechs riss

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