617 Grad Celsius
einem Industriebetrieb mit Millionenschaden. Morgen früh muss ich im Prozess aussagen. Der Anwalt der beklagten Firma will mir Fehler nachweisen, aber er wird sich die Zähne ausbeißen.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Ich ruf dich an, sobald ich zurück bin.«
Anna löschte das Licht und schloss ihr Büro ab. Sie entschied, ihrer Chefin den Bericht persönlich zu überreichen und mit ihr ein paar Takte über den Fall Daniel zu reden. Denn bei aller gebotenen Vorsicht: Bruno und sie würden Verstärkung brauchen.
Im Geschäftszimmer brannte das Deckenlicht, aber die Angestellte war bereits gegangen. Die Durchgangstür zum Büro der Kommissariatsleiterin war nur angelehnt. Anna vernahm Stimmen und erkannte den Bariton von Kriminalrat Benedikt Engel, Bachs unmittelbarem Vorgesetzten. Sie wollte nicht stören, legte den Schnellhefter mit den Blättern ihres Protokolls in das Eingangsfach und verließ das Geschäftszimmer.
Im griechischen Restaurant an der Kirchfeldstraße waren noch einige Tische frei. Anna steuerte einen Platz ganz hinten an, möglichst weit weg vom Trubel und Lärm. Sie studierte die Karte und versuchte, nicht an Michael Lohse zu denken und an die Trümmer, die der Mord an seinem Sohn hinterlassen hatte.
Babytintenfische – das klang lecker.
Die Bedienung trat an ihren Tisch, eine junge Griechin mit langer, dunkler Mähne. Ihr knallgelbes Top stellte einen gepiercten Nabel und ein üppiges Dekolletee zur Schau. Der Blick, mit dem das Mädel die Bestellung quittierte, verunsicherte Anna.
Sie suchte die Toilette auf und erkannte, was los war: Der Spiegel zeigte ein Gespenst – eingefallene Wangen, dunkle Ringe unter den Augen. Anna band sich das Haar zum Pferdeschwanz und beschloss, die nächsten Tage ruhiger anzugehen. Vor allem brauchte sie Schlaf.
Mit der üppigen Tintenfischportion und einem halben Liter griechischem Weißwein im Magen fühlte sie sich auf der Fahrt nach Holzbüttgen schon wesentlich besser. Aus dem Autoradio tönten Simon and Garfunkel: Hello, darkness, my old friend. Anna drückte den Sendersuchlauf und blieb bei einem Klassiksender hängen. Heller, leichtfüßiger Mozart begleitete sie nach Hause.
Picasso führte seinen Tanz auf, als sie aufschloss.
Anna kniete sich hin, rubbelte den Nacken des Zwergschnauzers und sagte: »Na, Kleiner, du hast genau gesehen, wer Daniel ermordet hat, stimmt’s?«
Der Hund warf sich auf den Rücken, damit Anna auch das Bauchfell kraulte. Sie tat ihm den Gefallen.
Spät am Abend hörte Anna Schritte und Stimmen – Sven Arnold hatte ihren Vater nach Hause gebracht, offenbar gab es noch etwas zu besprechen. Anna lag längst im Bett und beschloss, nicht noch einmal aufzustehen. Das Schlafmittel hatte sich schon in ihren Adern breit gemacht.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich frisch und erholt. Keine Probleme mit dem Gleichgewicht, keine Sehstörungen. Der Beweis, dass sie die Pillen im Griff hatte.
Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus Bosnien hatte sie ein Ohr für die Amseln, die vor dem Fenster trällerten. Sie öffnete es weit, inhalierte die Frühlingsfrische und bestaunte die rosa leuchtenden Wolken am Himmel. Wenn es eine Luft wie Champagner gab, dann war dies das passende Honiglicht dazu.
Kurz darauf prasselte der Strahl der Dusche auf ihre Haut und Anna fühlte sich endgültig gewappnet für den Tag.
Ihre gute Laune hielt noch genau fünf Minuten.
44.
ERMORDETER PROMINENTENMALER:
WER WAR ES WIRKLICH?
ZEUGE ERHEBT UNGLAUBLICHEN VORWURF:
POLIZEI ZWANG MICH ZU FALSCHAUSSAGE!
Er malte die Promis dieser Stadt. Seine Bilder waren wie sein Leben, wild und laut. Heute sind sie unbezahlbar. Sein früher Tod machte Daniel Lohse zur Legende. Mit 23 fiel er vor über zwei Jahren einem bestialischen Mörder zum Opfer. Verurteilt wurde dafür Modezeichner Clemens O., 36. Doch jetzt der schreckliche Verdacht: Ist der wahre Mörder noch auf freiem Fuß?
Kurt E., der damalige Mitbewohner von O., heute: »Wir haben zur Tatzeit gemeinsam einen Fernsehkrimi angeschaut. Das habe ich auch der Polizei gesagt. Aber eine Beamtin zwang mich, das Alibi zu widerrufen. O. ist unschuldig. Das Urteil beruht ausschließlich auf erpressten Aussagen.«
Was ist dran an dem unglaublichen Vorwurf? Ein Polizeisprecher: »Wir gehen der Sache nach.«
Es war der Blitz , der zuverlässige Bote aller Sensationen und Skandale. Er lag auf dem Küchentisch und die Schlagzeile sprang Anna ins Gesicht wie ein gieriges Raubtier. Sofort musste sie an
Weitere Kostenlose Bücher