617 Grad Celsius
Schloss. Die Reklamefrau war weitergezogen.
Anna klopfte.
Sie fixierte den Türspion und griff nach der Klingel. Zuerst erwischte sie die Treppenhausbeleuchtung, dann drückte sie den richtigen Knopf.
Big Ben ertönte.
Nichts rührte sich in der Wohnung. Anna presste ein Ohr gegen die Tür. Die Stille erschien ihr unnatürlich, als hielte jemand auf der anderen Seite die Luft an.
Anna zog das Foto hervor und präsentierte es dem Spion, bevor sie schließlich den Rückzug antrat.
Als sie kurz darauf im Hof des Präsidiums parkte, rief sie die Auskunft an und ließ sich mit Essigs Schule verbinden. Noch hatte der Unterricht nicht begonnen.
Die Sekretärin meldete sich. Eine fröhliche Stimme mit holländisch klingendem Akzent.
Anna fragte: »Ist Kurt Essig zu sprechen?«
»Er hat sich entschuldigt. Das halbe Kollegium scheint die Grippe erwischt zu haben.«
»Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«
»Die Privatnummer geben wir nicht heraus. Aber ich kann ihm ausrichten, dass Sie angerufen haben. Wie war nochmal Ihr Name?«
Anna drückte die Taste, die das Gespräch beendete.
Sie schloss ihr Auto ab und stemmte die Tür des Seiteneingangs auf. Ihre Sohlen knirschten auf dem Linoleum. Sie beschloss, es gegen Mittag noch einmal bei Essig zu Hause zu versuchen.
Als sie das Foyer erreichte, hielt sie inne. Ein massiger Kerl redete mit dem Kollegen im Pförtnerkasten. Sie erkannte den Besucher sofort, obwohl er sein Toupet nicht mehr trug. Die buschigen Augenbrauen, die Narbe am Kinn.
Blondschopf Becker sprang aus dem Paternoster und eilte mit federndem Schritt auf Essig zu. Der Kollege und der pädophile Pauker gaben sich die Hand.
Becker wirkte, als sei es die Krönung seiner Laufbahn, die Anschuldigungen Essigs zu Protokoll zu nehmen. Anna Winkler als Fall von Beamtenkriminalität – Nötigung zur Falschaussage.
Sie zog sich in den Gang zurück und suchte die Toilette auf.
Dort riss sie das Foto aus dem Umschlag und fetzte es zitternd in winzige Schnipsel, die sie ins Klo warf. Viermal musste sie die Spülung drücken, bis alles verschwunden war.
Der einzige Beleg für ihre Verfehlung war vernichtet. Sie war nie in Essigs Wohnung eingebrochen, sie hatte den Kerl nie erpresst.
Jetzt stand Aussage gegen Aussage.
Ein paar Minuten lang stand sie noch im Toilettenverschlag, sich am Spülkasten festhaltend und tief Luft holend, bis ihr Puls ruhiger ging und sie sicher war, dass kein Fotofetzen wieder nach oben trieb.
45.
Im Flur des KK 11 herrschte die übliche Ruhe. Verschlossene Türen, Kaffeegeruch. Leises Gemurmel drang aus Beckers Büro und ließ auf eine angeregte Unterhaltung schließen.
Anna passierte den Eingang ihres eigenen Zimmers, klopfte an der letzten Tür und trat ein.
Bruno Wegmann schaute von seinem Computerbildschirm auf. »Da bist du ja endlich.«
Er schien noch immer nicht zu wissen, was los war.
Vier dicke Ordner auf dem Tisch des Kollegen – die Akte zum Mordfall Daniel.
Wegmann bewegte die Maus über ein Pad, das ein spärlich bekleidetes Pin-up-Girl zeigte.
»In unserem Bereich haben wir keinen vergleichbaren Fall. Aber in Straubing, Niederbayern. Dort wurde vor etwa einem halben Jahr ein junger Mann ermordet.«
Er drehte den Monitor, damit auch Anna sehen konnte, was die Mattscheibe zeigte.
Anna erkannte einen Körper, der vor einem Heizkörper lag. Die Füße waren hochgebunden.
Mit einem Mausklick blätterte Bruno weiter. Noch mehr Tatortfotos. Großaufnahmen. Die Fessel bestand aus Paketband. Als das Gesicht des Toten erschien, schloss Anna für einen Moment die Augen.
Bruno erklärte: »Die Kollegen haben mir die Fotos gemailt.«
»Was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Okay, er hat ihn erschlagen oder totgetreten und ihm nicht die Kehle aufgeschlitzt. Aber es fällt auf, dass auch hier jegliche Einbruchspuren fehlten. Und der Mörder hat eine Schnur benutzt, die er in der Wohnung vorfand, und wie in Daniels Fall damit dem Opfer die Füße hochgezogen. Vielleicht erregt ihn die demütigende Stellung, wenn sein Opfer sich nicht mehr aufrichten kann.«
Mausklicks, neue Bilder. Anna musste zweimal hinsehen, bis sie etwas erkennen konnte.
Bruno kommentierte: »Die Genitalien weisen Bissspuren auf. Der Täter hat den Modus Operandi weiterentwickelt.«
Anna räusperte sich. »Ich weiß nicht recht, Bruno.«
»Die Bayern sind auf Draht. Sie wollen uns einen Kollegen schicken. Ich habe sämtliche gesicherten Fakten zum Fall Daniel Lohse in die ViCLAS-Datei des
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