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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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geschickt. Mit Unterbrechungen zwei Jahre lang. Den Trubel um den Mord an diesem Maler hab ich schon gar nicht mehr mitbekommen. Es war eine völlig verrückte Zeit.«
    »Die Konzertreise war euer Durchbruch?«
    Sven zuckte mit den Schultern. »Du siehst es ja. Der Veranstalter ging Pleite. Der Keyboarder ist ausgestiegen. Ich arbeite wieder als Fahrer und Bürobote. Aber es waren zwei geile Jahre.«
    Anna nickte und dachte, dass ihre Zeit in Bosnien das Gegenteil gewesen war. Sie sagte: »Gib mir Bescheid, wenn Silverhammer wieder auftritt.«
    Er lachte und versprach es. Dann wurde er nachdenklich. »Bernd ist ein wahnsinnig hilfsbereiter Mensch und ein ausgezeichneter Politiker. Korruption würde ich das auf keinen Fall nennen, was er gemacht hat. Man hat ihm das Geld förmlich aufgedrängt und alle sind froh, wie er sich einsetzt. Der Konzern, die Gewerkschaft, die Partei. Und er hat ein Herz für die kleinen Leute.«
    Anna strich ihm durch die Haare. Sie wollte jetzt nicht über Politik oder ihren Vater reden.
    »Er wird es schaffen«, fuhr Sven fort. »Vielleicht machen sie ihn nach der Wahl sogar zum Minister.«
    Sie neigte sich hinüber und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Ein Auto kam die Straße entlang und Licht huschte über Svens Gesicht. Er wirkte verlegen.
    Anna bemerkte: »Das meinte ich übrigens ehrlich, dass ich Silverhammer gern wieder hören möchte. Und falls du dir Gedanken wegen Lutz machst: Wir sind schon seit einem Jahr nicht mehr zusammen.«
    Jetzt war es Sven, der sie zu sich heranzog. Ein langer, inniger Kuss. Ein erregendes Spiel der Zungen, das sie erst beendeten, als die Kälte ins Auto kroch.
    Sven verabschiedete sich und stieg aus. Vor der Haustür machte er kehrt. Anna ließ das Fenster herab. Er beugte sich zu ihr. Der Regen lief über sein Gesicht.
    Er sieht aus wie ein Prinz, fand Anna.
    »Geh nicht wieder zurück nach Bosnien«, sagte er.
    »Nein, das habe ich nicht vor«, antwortete sie.
    Als Anna wieder in das Haus in der Hasselstraße zurückgekehrt war, schlich sie zuerst zum Schlafzimmer ihres Vaters. Durch die Tür drang leises Schnarchen in regelmäßigem Rhythmus.
    Beruhigt ging sie auf ihr Zimmer. Dort zog sie die Schublade des Nachtkästchens auf und warf das Kondom hinein. Es war zwar nicht zum Einsatz gekommen, aber sie war sich sicher, dass Sven sich morgen bei ihr melden würde. Vor zwei Jahren war sie angetrunken gewesen und hatte ihn überrumpelt. Jetzt würde sie es langsam angehen. Auf seine Art.
    Ihr Blick fiel auf Johannas Tagebücher.
    Versprich mir, dass du nur darin liest, wenn du dich stark fühlst .
    Die Neugier siegte. Vielleicht würde sie eine Bestätigung dafür finden, dass ihr Vater anders war, als sein Schwager es darstellte.
    Das Heft, das sie aufschlug, begann mit Aufzeichnungen aus dem Herbst 1991. Anna rechnete nach. Damals war sie vierzehn geworden. Ihr Vater hatte bereits als Abgeordneter im Landtag gesessen und seit einem Jahr war Deutschland vereint – all das hatte Anna wenig gekümmert.
    Die Pubertät hatte sie erwischt. Sie schnitt sich Risse in die Jeans und stand auf Nirvana sowie auf Jungs, die sich gaben wie Kurt Cobain: Zottelhaare, Holzfällerhemd und die unerschütterliche Gewissheit, dass die Welt am Materialismus der Menschen zu Grunde ging.
    Der Stil ihrer Mutter hatte sich in vierzehn Jahren verändert. Weniger Abkürzungen, flüssigere Sätze. Als schreibe Jo für die Nachwelt, kam es Anna für einen Moment in den Sinn.
    26. Oktober 1991
    Uwes 48. Geburtstag. Zur Überraschung aller gab er seine Verlobung bekannt. Das arme Ding heißt Friederike und macht einen sehr verschlossenen Eindruck. Könnte seine Tochter sein. Uwe lässt es sich nicht ausreden. Er will Ministerpräsident werden und keine Gerüchte riskieren. Hochzeit im Januar, kurz vor dem Parteitag. Das nennt man Timing. Uwe ist noch immer sauer auf Bernd. Meinen Vorschlag, Michael künftig die Gelder in die Schweiz bringen zu lassen, will er sich überlegen.
    9. November 1991
    Deutschland feiert den zweiten Jahrestag des Mauerfalls. Ich habe Michael angeboten, ihm den Haushalt zu führen und den Kleinen zu hüten, solange Karin mit ihrer Bandscheibe in der Klinik liegt.
    13. November 1991
    Michael ist zum ersten Mal nach Zürich gefahren. Habe Karin besucht, weil ich es ihm versprochen habe. Die eingebildete Tussi redet von ihrem Gartendesign, als sei es hohe Kunst. Dabei hat die Arbeit ihren Rücken ruiniert. Auf Bernd ist sie auch nach über vierzehn Jahren

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