617 Grad Celsius
eingesetzt. The Final Countdown, ein pathetischer Popsong, den Anna noch nie hatte leiden können.
Sie bettete den Kopf in ihre Hände und versuchte, das Gehörte zu verdauen. Uwe Strom hatte ehrlich gewirkt. Besorgt und betroffen. Aber das tat er immer.
Sie stand auf, holte den Rußpinsel aus ihrer Tasche und stäubte die Lehne des Stuhls ein, den ihr Onkel angefasst hatte.
Ein Daumen wurde sichtbar, auf der anderen Seite drei geringfügig verwischte Finger. Mit Folien sicherte sie die Spuren und klebte sie auf eine Karte, die sie beschriftete.
Ihren Stuhl hatte der Ministerpräsident mit der anderen Hand gepackt. Die Untersuchung ergab drei weitere Spuren.
Sieben von zehn Fingern, die meisten Abdrücke Prachtexemplare.
Sie wiederholte die Prozedur an den Stellen, wo Stroms nervöser Mitarbeiter die Tür berührt hatte. Vier Finger an der Innenseite. Ein Daumen an der Außenseite – damit hatte sie eine ganze Hand.
Schließlich verteilte sie Ruß auf dem äußeren Türgriff. Auch den hatte Stroms Mitarbeiter angefasst, vermutlich mit der anderen Hand. Im Neonlicht des Flurs zeichneten sich zahlreiche Spuren ab, die sich überlagerten. Kurzerhand sicherte Anna alles, was dem Griff anhaftete, und übertrug es auf eine weitere Karte.
Im Saal brandete Applaus auf. Die Leute riefen: »Jetzt geht’s lo-hos, jetzt geht’s lo-hos!«
Eine Lautsprecherstimme drang an Annas Ohr – ein Redner schwor die Zuhörer auf das Hauptprogramm des Abends ein.
Anna dachte an ihren Vater. Ein kleiner Schwächeanfall.
Sie suchte den Eingang, durch den sie gekommen war.
Ein großer Schatten stand in der Kälte neben Bernd Winklers BMW. Die Spitze einer Zigarette glühte auf. Es war Sven, der die Kippe auf den Asphalt schnippte und Anna entgegenkam.
»Wie geht’s dir, Luna?«, fragte der lange Kerl. Anna spürte seine Verlegenheit. Es war nicht der Moment für ausgelassene Wiedersehensfreude.
»Bring mich zu ihm«, antwortete sie.
50.
Ihr Vater hockte auf einer Bank im Wartebereich der Ambulanz. Er erhob sich und lächelte, als er Anna erkannte, aber ihr fielen die eingefallenen Wangen auf und die blasse Gesichtsfarbe. Sie nahm seine Hand. Sie war kalt.
»Wie geht es dir?«, fragte Anna.
»Halb so schlimm.«
Ein Arzt trat aus einem der angrenzenden Zimmer, der weiße Kittel wehte und ließ einen leuchtend grünen Pulli sehen. In der Hand trug er einen Papierausdruck.
»Herr Winkler?«, fragte der Arzt.
»Das bin ich.«
»Wir würden Sie gern zur Beobachtung über Nacht hier behalten.«
»Das ist nicht nötig.«
Anna fragte: »Was hat mein Vater?«
»Genau können wir das erst nach einer ausführlichen Untersuchung feststellen. Mit einer Ohnmacht aus heiterem Himmel ist jedenfalls nicht zu spaßen.«
»Hör auf den Arzt, Papa.«
Er stand auf und griff nach seinem Mantel. »Ich habe nichts. Hinlegen kann ich mich zu Hause auch.«
Der Arzt ermahnte: »Sie sollten die Dosis Ihres Betablockers erhöhen. Nehmen Sie ACE-Hemmer?«
»Klar. Alles.«
»Gut. Auf keinen Fall absetzen. Und Sie müssen eine Erklärung unterschreiben, dass Sie auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen.«
»Her damit. Verantwortung zu tragen ist mein Job.«
Der große BMW rollte mit schnurrendem Motor durch die Dämmerung. Auf der Windschutzscheibe verschwammen die Lichter im aufgewirbelten Regen, als sie einen Lastzug überholten. Sven knipste die Wischer an. Er fuhr schnell, aber ohne Hektik.
Anna saß hinter ihrem Vater und berührte seine Schulter. Er tätschelte ihre Hand und wandte sich zu ihr um. »Sorg dich nicht, Prinzessin. Es war wirklich nur ein kleiner Schwächeanfall.«
»Ich habe mit Alex Vogel gesprochen.«
»Das ist gut. Wie seid ihr verblieben?«
»Er scheint nichts Konkretes gegen dich und Onkel Uwe in der Hand zu haben.«
»Wie sollte er auch. Nein, ich meine, wird er dich künftig in Ruhe lassen?«
»Ich hab ihm eingeflüstert, dass der Kerl, der mich denunziert hat, auf kleine Jungs steht. Vielleicht beschäftigt das den Blitz für eine Weile.«
»Sehr schön, gute Idee.«
Eine Weile schwiegen sie. Sven warf ihr über den Rückspiegel einen Blick zu. Anna spürte eine Welle der Wärme durch ihren Körper gehen.
Sie erklärte: »Kurt Essig, Odenthals damaliger Mitbewohner, ist wirklich pädophil. Ich hab das nicht erfunden.«
»Noch besser«, antwortete ihr Vater.
Anna ärgerte sich. Entweder hielt er sie für einfältig oder er glaubte tatsächlich, sie wende seine Mittel an.
Sie beschloss, alle
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