617 Grad Celsius
der Aussage des jungen Bosniers unter Druck. Das hat er nicht verkraftet.«
»Damit kommst du nicht durch, Thilo.«
Kriminalrat Engel mischte sich ein: »Sie müssen jetzt nicht Stellung beziehen, Frau Winkler. Ich rate Ihnen, erst mit Ihrem Anwalt zu reden, bevor Sie eine Aussage machen.«
Anna rang nach Worten. Ungläubig rief sie: »Ermittelt ihr auch im Fall Schützenstraße gegen mich? Als Mordgehilfin, oder was?«
Ihre Chefin verschränkte die Arme.
Becker sagte: »Zumindest wegen Falschaussage und Unterschlagung von Beweismitteln.«
Anna sprang auf. »Dreht ihr jetzt völlig durch?«
»Fakt ist, dass du Bruno Wegmann bedroht hast. Er hat vor zwei Jahren Lohse und deinen Vater mit Odenthal im Vernehmungszimmer allein gelassen. Du hast es gewusst und ihn erpresst, damit er dich beim Vertuschen der Indizien deckt, die auf deinen Vater als Mörder Peter Uhligs und Daniel Lohses hindeuten.«
Anna wandte sich an ihre Chefin: »Sag, dass du diesen Unsinn nicht glaubst, Ela!«
Die Kommissariatsleiterin antwortete: »Es geht hier nicht um Glaubensfragen, sondern um einen Anfangsverdacht, dem wir pflichtgemäß nachgehen müssen.«
»Merkt ihr denn nicht, dass ihr euch zum Werkzeug einer politischen Intrige machen lasst?«
»Beruhig dich, Anna.«
»Warum hängt ihr dem Abgeordneten Bernd Winkler nicht auch den Mord an Uwe Barschel an? Wie wär’s mit Jürgen Möllemann? Oder John F. Kennedy? Wisst ihr was: Ihr könnt mich alle mal!«
Keiner hielt sie auf, als sie hinaus auf den Flur stürmte.
Von Thilo Becker hatte sie nichts anderes erwartet. Dass auch Bach und Kriminalrat Engel auf den Unsinn eingingen, konnte sie sich nur mit Druck von ganz oben erklären.
Zudem wusste sie jetzt, woher Becker sein Wissen über Bernd Winkler hatte.
Anna riss die Tür zu Wegmanns Dienstzimmer auf und störte Bruno und den bayerischen Kollege beim Begutachten von Fotos. Sie giftete: »Du nennst mich Verräterin, Bruno? Du hast meinen Vater verpetzt, obwohl du versprochen hast, es nicht zu tun. Du weißt genau, dass er mit der Schützenstraße nichts zu tun hat!«
Der Ermittler aus Straubing rührte in seiner Kaffeetasse und duckte sich. Die Fotos auf dem Tisch waren Schnappschüsse, die Kinder zeigten – vermutlich Schmiedingers süße Kids.
»Das behauptest du«, antwortete Bruno.
»Glaubst du denn auch, dass ich mir Lohses Geständnis ausgedacht habe?«
»Ich weiß nur, dass ich dir nicht vertrauen kann.«
»Becker ermittelt gegen mich, als sei ich die Komplizin eines Mörders. Das ist deine Schuld!«
Bruno giftete zurück: »Und warum hast du mich angeschwärzt und verraten, dass ich deinen Vater zu Odenthal gelassen habe?«
»Das hab ich nicht.«
»Becker ermittelt auch gegen mich. Ich steh da wie einer, der einen Folterknecht auf einen Verdächtigen hetzt, um mit einem Vernehmungserfolg prahlen zu können. Das habe ich dir zu verdanken!«
»Das stimmt nicht! Ich hab keinem auch nur ein Wort davon erzählt. Das musst du mir glauben!«
Schmiedinger räusperte sich und fragte: »Soll ich vielleicht rausgehen?«
»Nicht nötig, Olaf«, antwortete Bruno. »Meine Kollegin verschwindet jetzt. Am besten kommt sie niemals wieder.«
Teil V
Blutmond
Hello, darkness, my old friend …
Paul Simon/Art Garfunkel, Sound of Silence
56.
Anna packte ihre persönlichen Sachen in einen Karton und achtete darauf, auch keine Aufzeichnungen zur Schützenstraße und zum Fall Daniel Lohse zurückzulassen. Ihren Kollegen traute sie inzwischen alles zu.
Der Fragebogen zum Betriebsklima fiel ihr in die Hände. Aussage Nummer siebzehn: Es gibt Cliquen und Intrigen in unserer Behörde/Einrichtung .
Anna kreuzte an: stimmt völlig .
Nummer achtzehn: Die Vorgesetzten versuchen, eigene Fehler auf die Kolleginnen/Kollegen abzuwälzen .
Sie zerriss die Seiten und warf die Schnipsel in den Papierkorb.
Draußen schien die Sonne, der wärmste Tag seit ihrer Rückkehr. Anna deponierte den Karton in ihrem Auto und beschloss, den Golf im Hof des Präsidiums stehen zu lassen. Nach fünf Minuten Fußmarsch erreichte sie das Landtagsgebäude, das in den späten Achtzigerjahren am Rheinufer neu gebaut worden war – als Nachfolger eines alten Preußenpalastes, der heute als eins der zahlreichen Kunstmuseen diente.
Anna kannte den Weg zu Bernd Winklers Büro im zweiten Stock des SPD-Trakts. Doch der Pförtner hielt sie zurück und wollte ihren Personalausweis sehen. Dann griff er nach dem Telefon und ließ sie in der Sicherheitsschleuse
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