617 Grad Celsius
in die Steckerleiste an der Wand und versuchte, im Schwarzlicht Flecken auf dem Holzstück zu erkennen.
Anna steckte das Mobiltelefon weg. Sie war keine Spezialistin, aber ihre Spuren waren denkbar einfach auszuwerten: Klare Linien aus Ruß und Schweiß auf weißem Karton. Zwölf fast komplette Fingerkuppen und ein Bild aus sich überlagernden Fragmenten.
Ihr fiel ein, dass sie Zeit sparen konnte, wenn sie zunächst die Grundmuster feststellte. Es gab vier Typen, je nach der Zeichnung im Zentrum der Hautleistenbilder: Schleife links, Schleife rechts, Wirbel und Bogen – Letzteres war das Grundmuster der Spur auf der Scherbe, die vor zwei Jahren am Tatort in Unterbilk asserviert worden war.
Drei der Vergleichsspuren aus Essen wiesen das gleiche Muster auf. Den Rest konnte Anna beiseite schieben.
Wieder machte sie sich daran, sämtliche Unregelmäßigkeiten zu markieren. Sie erbat sich eine Lupe vom Kollegen an ihrer Seite. Nach zwanzig Minuten war sie so weit.
Mit wachsender Nervosität verglich Anna die Verteilung der Filzstiftpunkte auf den Folien mit dem Bild der Tatortspur. Rasch schieden zwei Spuren aus.
Die dritte versetzte Anna in Euphorie.
Klare Übereinstimmung in fünf Fällen.
Neun Minutien waren nötig, um einen Richter zu überzeugen. Dass es weniger waren, lag lediglich daran, dass die Spur unvollständig war. Nur ein Fragment, am Rand verwischt und zum Teil überlagert von anderen Abdrücken.
Daniels Mörder – sie hatte ihn.
Fieberhaft sortierte Anna die Karten, um nachzusehen, woher das Fragment stammte, und wurde fündig auf dem Blatt, das die Schweißablagerungen auf der Unterseite der Türklinke in Essen dokumentierte.
Der Referent.
In diesem Moment schrillte Annas Handy wieder. Sie nahm das Gespräch an. »Winkler.«
»Bach. Wo steckst du, Anna?«
»Kriminaltechnik.«
»Komm bitte mal rüber«, befahl die Kommissariatsleiterin und brach die Verbindung ab.
Bruno Wegmanns Prophezeiung: Irgendwann lässt sie jeden ihrer Lieblinge fallen .
Anna atmete tief durch.
Ihr Herzschlag beruhigte sich nicht.
Hastig wählte sie Brunos Handynummer, doch es meldete sich nur die Mailbox des Kollegen. Sie rief in seinem Büro an und bekam die niederbayerische Stimme zu hören.
»Bei Wegmann, Kripo Düsseldorf, äh, Schmiedinger am Apparat.«
»Ist Bruno noch nicht zurück?«
»Nein.«
»Hör zu, Olaf. Wenn du ihn siehst, dann richte ihm bitte aus, dass ich eine übereinstimmende Fingerspur habe. Sie stammt von einem Mitarbeiter der Staatskanzlei. Wir haben den Mörder, verstehst du? Ich kenne seinen Namen nicht, aber ich kann ihn beschreiben. Hast du Stift und Papier?«
»Ja.«
»Also: Ende zwanzig bis Anfang dreißig, etwa eins achtzig groß, schlank, mittelbraunes Haar, modischer Kurzhaarschnitt mit viel Gel, kein Bart, keine Brille. Ach ja, und er trägt einen Ohrstecker auf der rechten Seite. Das müsste genügen.«
»Staatskanzlei, sagtest du?«
»Ja.«
»O mei, in Bayern würd das gewaltigen Ärger geben.«
»Bei uns ist das nicht anders.«
Anna packte ihre Unterlagen zusammen, knipste die Lampe aus und verließ die Kriminaltechnische Untersuchungsstelle.
Gewaltiger Ärger – Annas Magen brannte, als sie den Flur des KK 11 erreichte.
Unmittelbar vor der Tür hielt sie der Klingelton ihres Handys zurück. Anna klemmte ihren Spurenkram unter den Arm und drückte das Gerät ans Ohr. »Winkler.«
Es war Brunos Stimme, zornig bellend, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte: »V ERRÄTERIN ! D AS HÄTT ICH NICHT VON DIR GEDACHT !«
Verdutzt fragte Anna, was los sei, doch der Kollege hatte bereits aufgelegt.
Sie drückte die Tür auf, schritt durch das Geschäftszimmer, registrierte den verlegenen Blick der Regierungsangestellten und machte sich auf den vorläufigen Tiefpunkt ihrer Karriere gefasst.
55.
Ela bot Anna den zweiten Stuhl an und händigte ihr stumm ein Schreiben aus. Kriminalrat Engel lehnte mit verschränkten Armen auf dem Heizkörper und schaute mit unergründlicher Miene auf sie herab.
Anna las sie die ersten Sätze und wusste Bescheid.
Für die Dauer des Vorermittlungsverfahrens ab sofort vom Dienst suspendiert. Absenkung der Bezüge auf achtzig Prozent . Unterschrift und Stempel des Behördenleiters. Und nichts als hässliche Vokabeln: Verdacht der schweren Nötigung im Amt .
»Und wenn ich gegen die Suspendierung vor das Verwaltungsgericht gehe?«, fragte Anna.
Engel antwortete: »Sie erreichen damit allenfalls eine Weiterbeschäftigung in einer anderen
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