64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
eben:
„Der Riese kann es nicht sein; aber es ist die Möglichkeit vorhanden, daß es sein Bruder ist. Wer aber ist der andere? Können Sie ihn mir beschreiben?“
Diese Frage war an den Wirt gerichtet, welcher ein möglichst genaues Signalement des Fremden lieferte.
„Hm! Kenne ihn nicht“, sagte der Fürst.
„Jedenfalls ein Verbündeter des gefangenen Hauptmanns“, meinte der Diener Adolf.
„Anders nicht. Wie aber wollen sie bei der Miß eindringen? Sollten sie die Schlüssel besitzen?“
„Jedenfalls.“
„Hm! Wüßte ich nicht, daß wir den Hauptmann festhaben, so würde ich behaupten, daß er es sei. Na, wir werden ihn ja kennenlernen. Jetzt fragt es sich nur, wie der Riese in das Hotel kommen soll.“
„Vielleicht soll er sich einschleichen.“
„Das glaube ich nicht; das wäre zu gewagt. Eher nehme ich an, daß er zum Fenster einsteigen soll. Hat der Fremde Gepäck bei sich?“
„Ja, eine Reisetasche in Kofferform.“
„Vielleicht befindet sich eine Strickleiter darin. Wollen dies einmal beobachten. Haben Sie noch Gäste vorn in der Restauration?“
„Nein. Der letzte ist vor fünf Minuten fort.“
„Ist noch Licht in der bisherigen Wohnung der Miß?“
„Nur im Schlafzimmer.“
„Recht so! Diese Kerls werden natürlich nicht eher beginnen, als bis alles dunkel ist. Wir werden sie in der Wohnung der Miß erwarten. Sie bringen uns jetzt hinauf, ohne daß der Gast es bemerkt. Dann verlöschen Sie alle Lichter und schließen die Türen so fest zu, daß niemand passieren kann. Sie selbst verhalten sich mit Ihrem Personal vollständig passiv. Wir bringen die Angelegenheit ganz allein in Ordnung. Herr Assessor, brennen wir uns die Laternen an!“
Sie steckten zwei Blendlaternen an, die sie dann in ihren Taschen verbargen. Der Wirt ging voran, um sich zu überzeugen, daß der fremde Gast nichts bemerkte, und führte sie in das Logis der Tänzerin.
Dort angekommen, verriegelte der Fürst von den drei nach dem Korridore führenden Türen zwei, während er die dritte nur verschloß und dann den Schlüssel abzog.
„Auf diese Weise können sie nur zu dieser einen Tür eindringen“, sagte er. „Wir wissen also genau, wo wir sie zu erwarten haben. Jetzt, Herr Wirt, lassen Sie uns allein und machen Sie Ihr Haus dunkel!“
Als der Wirt gegangen war, fuhr der Fürst fort:
„Also wir haben drei Zimmer: Vor-, Wohn- und Schlafzimmer. Die beiden letzteren sind von innen verriegelt; man kann nur zum Vorzimmer herein. Das Geld und die Juwelen sind im Schlafzimmer zu suchen. Die Diebe werden also durch die beiden anderen Räume in das letztere kommen. Dort erwarten wir sie. Da ein Bormann dabei ist, müssen wir uns auf einen kräftigen Widerstand gefaßt machen; doch sind wir fünf Personen; entkommen werden sie uns also voraussichtlich nicht.“
„Wohin stecken wir uns?“ fragte der Assessor.
„Fünf Männer können sich in diesem kleinen Raum nicht verstecken. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns so lange in die Ecken zu schmiegen, bis sie hereingetreten sind. Dann heraus mit unseren Laternen, und wir haben sie.“
„Gut! Löschen wir also aus?“
„Ja. Dann öffnen wir ein Fenster, um zu beobachten, wie der Riese es anfängt, in das Haus zu kommen.“
„Wird er das nicht bemerken?“
„Nein. Die Gaslaternen brennen heute so schlecht, daß wir ohne Sorge für kurze Augenblicke öffnen können, ohne von unten bemerkt zu werden.“
Er löschte das in der Schlafstube brennende Licht aus, und dann traten sie an die Fenster, um die Straße zu beobachten.
Es verging doch über eine halbe Stunde, da endlich sagte Adolf zu den Harrenden:
„Aufgepaßt! Da unten bewegt sich etwas.“
„Ja“, antwortete der Fürst. „Es kommt näher. Ah, welch langer, starker Mensch!“
„Jetzt ist er über die Straße herüber.“
„Der andere wird ihm ein Zeichen gegeben haben. Sehen wir einmal nach, was er tut!“
Er öffnete einen Fensterflügel und steckte den Kopf vorsichtig hinaus, zog ihn aber bereits nach einigen Augenblicken wieder herein und berichtete:
„Es muß ein Seil heruntergelassen worden sein. Er turnt sich empor. Nun wird unsere Geduld nicht mehr lange auf die Probe gestellt werden.“
Er machte das Fenster wieder zu, und dann zogen sie sich erwartungsvoll in die Ecke zurück. –
Die größte Geduldsprobe hatte natürlich Bormann auszustehen gehabt. Es war keine Kleinigkeit, bei diesem Wetter eine solche Zeit ruhig zu warten. Endlich bemerkte er, daß sich das
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