64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
letzte noch erleuchtete Fenster öffnete. Der Baron erschien an demselben, winkte und ließ den Strick hinab. Bormann ging über die Straße hinüber und zog kräftig an dem Strick, um sich zu überzeugen, daß er gut befestigt sei. Dann griff er sich zum Fenster empor und stieg ein. Das hatte ihm, dem starken Mann und Akrobaten, gar keine Mühe gemacht.
In der Stube war es schnell finster geworden.
„Warum haben Sie das Licht ausgelöscht?“ fragte er, indem er den Strick hereinzog und das Fenster verschloß.
„Das sehen Sie nicht ein?“ antwortete der Baron.
„Nein.“
„Denken Sie sich, daß da drüben, in einer der gegenüberliegenden Wohnungen, zufälligerweise jemand erwacht und herüberblickt! Er würde Sie einsteigen sehen, wenn ich das Licht brennen hätte. Ich werde es übrigens wieder anzünden. Setzen Sie sich, damit man Ihren Schatten nicht bemerken kann!“
Als das Licht wieder leuchtete und der Baron Bormann betrachtete, hatte er Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
„Mensch, wie sehen Sie denn aus!“ sagte er, natürlich so leise, daß nur Bormann ihn verstehen konnte.
„Nun, wie denn?“ antwortete dieser, ziemlich verdrossen.
„Als hätten Sie Schwimmstunde gehabt.“
„Ist's ein Wunder? Diese lange Zeit in solchem Regenguß zu stehen! Ich bin nicht nur bis auf die Haut, sondern sogar bis auf die Knochen naß. Haben Sie nichts Warmes?“
„Hier stehen zwei angestochene Flaschen Wein. Ich habe sie Ihretwegen kommen lassen. Trinken Sie!“
Bormann setzte die eine Flasche an den Mund und trank sie auf einmal aus. Dann sagte er, mit der Zunge schnalzend:
„Nicht übel! Aber ein Schnaps wäre mir doch lieber.“
„Könnte aber nur schaden. Wir müssen nüchtern sein.“
„Wie ist's gegangen?“
„Ganz gut. Im Haus ist es stillgeworden. Es scheint alles zu Bett gegangen zu sein. Gab es noch erleuchtete Fenster an der Front?“
„Nein. Das letzte, welches dunkel wurde, war nebenan.“
„Das ist das Vorzimmer der Tänzerin.“
„Daß Sie sich nur nicht irren!“
„Nein. Ich habe mich bei dem Kellner ganz genau erkundigt. Die Dame hat Vor-, Wohn- und Schlafzimmer. Diese drei Räume hängen durch Verbindungstüren zusammen und aus jedem derselben führt zugleich eine Tür nach dem Korridore. Es gibt also im ganzen fünf Türen.“
„Durch welche kommen wir hinein?“
„Das müssen wir erst probieren.“
„Wie nun, wenn alle drei von innen verriegelt sind?“
„Das wäre fatal. Dem Riegel könnten wir mit dem Schlüssel gar nicht beikommen.“
„Dann säßen wir da!“
„Nicht doch! Ich würde klopfen.“
„Und andere aufwecken.“
„Nein. Ich klopfe so leise, daß nur sie es hört. Ich würde sagen, ich sei das Zimmermädchen und hätte ihr etwas Wichtiges mitzuteilen.“
„Und wenn wir eintreten, schreit sie laut und weckt sämtliche Bewohner des Hauses auf!“
„Wir geben ihr einen einzigen Klaps, dann ist sie für immer ruhig.“
„Besser ist's doch, der Schlüssel öffnet. Wann beginnen wir?“
„Jetzt noch nicht. Wenn sie vor so kurzer Zeit das Licht verlöscht hat, schläft sie ja noch nicht.“
„Gut, so warten wir! Aber, wo ist der Ort, an welchem wir dann teilen werden?“
„Draußen in der Vorstadt, ein verlassenes Gebäude.“
„Wäre es nicht besser, gleich hier zu teilen?“
„Warum?“
„Wir könnten uns dann gleich hier trennen.“
„Das geht nicht. Die Gegenstände müssen mit Muße taxiert werden, damit keiner zu kurz kommt.“
„Pah! Auf hundert Gulden mehr oder weniger kann es bei Millionen doch nicht ankommen. Wir teilen die Sachen in zwei Haufen. Jeder nimmt einen Teil, und dann sind wir fertig.“
„Nein, nein, so geht das nicht. Wollen uns überhaupt jetzt nicht streiten. Wir werden noch eine Zeitlang ganz ruhig sein und dann beginnen. Löschen wir einstweilen das Licht aus.“
„Wir sollten dann eine Blendlaterne haben!“
„Die habe ich. Nur keine Sorge!“
Er löschte aus, und nun warteten sie im Dunkel. Dabei gab jeder seinen Gedanken Audienz.
„Esel!“ dachte der Baron. „Ich mit dir teilen! Was du dir einbildest! Habe ich dich erst mit dem Schatz in der Eisengießerei, so bekommst du eine Kugel vor den Kopf. Während dieses Orkans hört kein Mensch den Revolverschuß, und ich bin dann alleiniger Herr des Vermögens.“
Und Bormann dachte bei sich:
„Er denkt wirklich, daß ich ihm glaube! Der und mit mir teilen! Warum will er nicht gleich hier teilen? Ich soll ihm die Kastanien aus dem Feuer
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