64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
vorlegen. Das erfordert die Höflichkeit.“
„Wo logiert er?“
„Erste Etage.“
„Nach vorn?“
„Ja, fast neben den Gemächern der Miß.“
„Hat er sich schon ganz zurückgezogen?“
„Nein. Er hat sich noch Essen bestellt, welches er, da es so spät ist, erst in einer Viertelstunde bekommen kann.“
„So haben wir noch Zeit. Also lassen Sie sich nichts merken. Der Diener Leonhardt wird mit noch einem Herrn kommen. Er mag hier auf mich warten. Jetzt aber lassen Sie mich bei der Miß melden.“
„Soll sie so spät gestört werden?“
„Soll sie lieber beraubt und ermordet werden?“
„Sie haben recht. Bitte, einen Augenblick Geduld!“
Er entfernte sich, und nach einiger Zeit kam das Zimmermädchen, um Holm zu sagen, daß er angemeldet worden sei und von der Miß empfangen werden solle. Als er bei der Geliebten eintrat, stand sie in erwartungsvoller, fast erstaunter Haltung mitten im Zimmer.
„Herr Doktor!“ sagte sie. „Ich heiße Sie willkommen! Es muß aber ein außerordentlicher Beweggrund gewesen sein, der Sie veranlaßte, sich zu so später Stunde noch zu mir zu bemühen.“
„Das ist er auch. Ich habe um Entschuldigung zu bitten, hoffe aber, Ihre Verzeihung zu erhalten.“
„Gewiß gern! Sprechen Sie.“
„Der Wirt hat Ihnen nichts mitgeteilt?“
„Meinen Sie, jetzt?“
„Ja.“
„Er war nicht bei mir. Er sendete mir das Mädchen, um mir sagen zu lassen, daß Sie mir eine höchst wichtige und höchst schleunige Mitteilung zu machen hätten. Sie sehen, daß ich infolgedessen nicht einmal Zeit fand, an meiner Toilette eine Änderung vorzunehmen.“
„Es kommt allerdings sehr darauf an, keine Minute Zeit zu verlieren. Darf ich sprechen, ohne befürchten zu müssen, Sie allzusehr zu erschrecken?“
„Ah! Ich ahne. Ich bin bereits vorbereitet. Schweben etwa meine Juwelen in Gefahr?“
„Ich glaube es; vielleicht auch Sie selbst.“
„Haben Sie Grund zu dieser Vermutung?“
„Ja. Soeben ist ein Fremder angekommen, welcher neben Ihnen einlogiert wurde und den ich sehr in Verdacht habe, daß er Ihnen während der Nacht einen Besuch machen werde. Und drüben auf der Straße steht sein Helfershelfer.“
„Ich danke Ihnen! Was raten Sie mir?“
„Bitte, lassen Sie zunächst die Vorhänge herab. Ich darf es nicht tun, da mich sonst der Mann auf der Straße bemerken würde.“
Sie folgte seiner Aufforderung, dann fuhr er fort:
„Ich ersuche Sie, schleunigst eine Etage höher ein Zimmer zu beziehen, dabei aber jedes Geräusch zu vermeiden. Man wird diese beiden Menschen hier empfangen.“
„Dieser Plan ist freilich gut; aber, Herr Doktor, Sie überlassen das doch der Polizei!“
„Ich werde meine Pflicht tun.“
„Ihre Pflicht ist nicht, Einbrecher zu ergreifen. Ich bitte Sie sehr, sich keiner Gefahr auszusetzen. Versprechen Sie mir das?“
Sie hielt ihm das kleine, schöne Händchen entgegen. In ihrem Auge leuchtete etwas, was sein Herz höher klopfen machte. Er ergriff ihre Hand und antwortete:
„Ich versichere Ihnen, daß keinerlei Gefahr für mich vorhanden ist. Ich habe bereits polizeiliche Hilfe requiriert.“
„Wohl meinen Pseudo-Leonhardt?“
„Ja. Er wird in kurzer Zeit mit Begleitung hier sein. Ihr Umzug muß natürlich in der Weise bewerkstelligt werden, daß Ihr gefährlicher Nachbar nichts davon bemerkt. Ihre Kostbarkeiten nehmen Sie natürlich mit. Darf ich den Wirt benachrichtigen?“
„Ja. Er mag mir nur fünf Minuten Zeit lassen; dann bin ich bereit.“
„So gestatten Sie mir, mich zu verabschieden!“
Er verbeugte sich ehrerbietig und wollte sich entfernen. Sie aber hielt ihm abermals die Hand entgegen und sagte:
„Es gibt jetzt, wie ich sehe, keine Zeit, Ihnen meinen Dank abzustatten, aber ich hoffe, daß wir uns wiedersehen.“
Er zog ihre Hand an seine Lippen und antwortete:
„Ich werde mir morgen erlauben, persönlich nachzufragen, wie Sie die jetzige Unruhe überwunden haben.“
„Nein. Das ist es nicht, was ich meine. Verlassen Sie vielleicht jetzt das Hotel?“
„Nein.“
„Sie bleiben also hier, bis der mir zugedachte Besuch geschehen ist?“
„Ja.“
„Nun, ich werde auch wach bleiben. Unter solchen Umständen bleibt natürlich der Schlaf fern. Ich bitte Sie also, mich zu benachrichtigen, wie das Abenteuer geendet. Wollen Sie das, Herr Doktor?“
„Sie befehlen, und ich werde gehorchen.“
„Nein, gehorchen sollen Sie nicht. Sie sollen es gern tun.“
„Das tue ich auch. Es wird mich sehr glücklich
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