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64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte

64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte

Titel: 64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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erhalten?“
    „Ja.“
    „Darf ich sie einmal sehen?“
    „Sie mißtrauen mir wohl noch immer?“
    „Nein. Ich frage nur aus Interesse.“
    „So! Da ist sie!“
    Er öffnete sein Portemonnaie, welches von Goldstücken erglänzte, zog die Karte hervor und zeigte sie ihm. Als er sie wieder eingesteckt hatte, erhob er sich von der Erde und fuhr fort:
    „Also, nun werde ich aufbrechen. Es wird Zeit.“
    „Weiß Ihr Oheim, wann Sie kommen?“
    „Nicht genau. Ich habe ihm mitgeteilt, daß er mich im Laufe dieser Woche erwarten kann. Kennen Sie Langenstadt?“
    „So ziemlich.“
    „Es gibt ein Rittergut, welches der Familie Scharfenberg gehörte. Befindet es sich noch in deren Besitz?“
    „Ja.“
    „Wohnen sie dort?“
    „Nein.“
    „Wo denn?“
    „Der eine Scharfenberg ist Direktor der Strafanstalt zu Rollenburg; er wohnt also dort. Sein Bruder, der Major, bewohnte eine andere Besitzung, und dessen Sohn, der Leutnant, stand in der Residenz in Garnison.“
    „Sie sagen ‚bewohnte‘ und ‚stand‘. Ist dies denn jetzt nicht mehr der Fall?“
    „Nein.“
    „Ah. Warum?“
    „Sie sind beide tot, gestorben an einem Tage.“
    „Wunderbar!“
    „Na, der Sohn erschoß sich, und den Vater rührte vor Schreck darüber der Schlag. Beide wurden im Stammschloß beigesetzt, nachdem ihre Leichen präpariert worden waren. Kürzlich aber habe ich gehört, daß der Anstaltsdirektor die Verfügung getroffen hat, daß die Särge beider nach Langenstadt geschafft werden sollen.“
    „Weshalb?“
    „Das weiß ich nicht. Interessieren Sie sich dafür?“
    „Nicht mehr als nur deshalb, weil mein Geburtsort dieser Familie gehörte. In welcher Richtung von hier aus liegt denn eigentlich Langenstadt?“
    Diese Frage kam dem Baron ganz außerordentlich gelegen. Er trat bis nahe an den Rand des Felsens, deutete mit der Hand nach Westen und antwortete:
    „Kommen Sie einmal her! Haben Sie scharfe Augen?“
    „Ja.“
    „Dann wird es Ihnen möglich sein, Langenstadt zu sehen.“
    „Auf solche Entfernung hin?“
    „Ja.“
    „Unmöglich!“
    „O doch! Die Morgenluft ist rein und klar, und das Schloß von Langenstadt liegt hoch genug. Ja, ich sehe es leuchten.“
    „Wo, wo?“
    Dabei trat der Amerikaner neben ihn hin.
    „Passen Sie auf! Sehen Sie die beiden Vorberge da, ganz in der Nähe, grad vor meiner Hand?“
    „Ja.“
    „Dahinter eine einzelne Bergkuppe?“
    „Sehr deutlich.“
    „Links davon etwas Schwarzes, welches das Aussehen einer langgezogenen Bergwand hat?“
    „Ja.“
    „Mitten auf dieser Wand ist ein weißer, wenn auch nicht sehr heller Punkt zu bemerken.“
    „Ich sehe ihn.“
    „Das ist das Schloß zu Langenstadt.“
    „Ah, also das! Dort werde ich also heute abend sein!“
    „Nein.“
    Der Amerikaner behielt den Punkt im Auge, welcher seine Heimat bedeutete. Er sagte, ohne sich abzuwenden, ohne sich zum Baron umzudrehen:
    „Nicht? Meinen Sie? Denken Sie, daß es zu weit ist?“
    „Nein, weil Sie eine andere Richtung nehmen werden.“
    Jetzt drehte er sich langsam um.
    „Diese da!“
    Der Baron deutete mit der Linken in die Tiefe hinab und versetzte ihm in demselben Augenblick einen solchen Stoß vor die Brust, daß der Getroffene über den Rand der Felsenplatte hinunterflog. Ein lauter, entsetzlicher Angstschrei – ein dumpfes Gekrach, wie das Aufschlagen eines fallenden Körpers auf lockeres Geröll – dann Todesstille.
    Der Baron lauschte noch eine Minute lang, dann murmelte er:
    „Fertig! Ah, das war Hilfe in der Not! Jetzt bin ich gerettet. Jetzt habe ich Geld und Legitimationen. Ich brauche dem Kerl nur nachzuklettern. Sein Onkel wird mich als Neffe aufnehmen; kein Mensch kann etwas dagegen haben. Dort warte ich, bis meine Zeit, mich zu rächen, gekommen ist. Jetzt aber schnell. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Wenn er recht gehabt hat, so können die Soldaten in Kürze hier eintreffen.“
    Er warf die geleerte Flasche ihrem letzten Besitzer nach, nahm den Tornister auf den Rücken, den Stock des Ermordeten in die Hand und begann abwärts zu klettern.
    Das geschah natürlich auf der Seite, an welcher er heraufgekommen war. Als er aber so tiefangelangt, daß es möglich war, auf die andere, gefährliche Seite hinüber zu kommen, veränderte er, dem angemessen, seine bisherige Richtung.
    Die Steilung war keineswegs nackt. Aus den Felsenritzen ragten hohe Tannen; Ginstergestrüpp wucherte an den unzugänglichsten Stellen, und aus dem Schutt und Geröll zogen allerlei Sträucher ihre

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