64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
Trauerstoff behangen. Zu Seiten des Altars neigten Palmen ihre Wipfel. Vor demselben, auf hohem Katafalk, standen zwei offene Särge, in welchen die einbalsamierten Körper von Scharfenberg Vater und Sohn lagen.
Der Schein vieler Wachskerzen beleuchtete die aschfarbenen Gesichter der Leichen, zu deren Häuptern der Anstaltsdirektor in schwarzem Anzug stand.
Hinter dem Altar waren die Mitglieder des Kirchenchors von Langenstadt plaziert, und an der kleinen Orgel saß der Ortskantor. Er griff, als er die Kommenden eintreten sah, in die Klaviatur.
Leise, getragene Akkorde schwebten durch den kleinen Raum, dann, als das Vorspiel beendet war, begann der Kirchenchor das Sterbelied:
„Meine Lebenszeit verstreicht.
Stündlich eil' ich zu dem Grabe,
Und was ist's, daß ich vielleicht
Noch allhier zu leben habe?
Denk, o Mensch, an deinen Tod;
Säume nicht, denn eins ist Not!“
Jetzt trat der mit anwesende Pfarrer an den Altar und verkündigte in kurzen Worten Namen, Stand und Alter der Verstorbenen. Dann erklang die nächste Strophe:
„Lebe, wie du, wenn du stirbst,
Wünschen wirst, gelebt zu haben.
Güter, die du hier erwirbst,
Würden, die dir Menschen gaben
Nichts wird dich im Tod erfreun;
Diese Güter sind nicht dein.“
Nun folgte die eigentliche Rede des Geistlichen. Er hielt sie kurz, fast karg. Es war, als habe er Grund, auf die gewöhnlichen Lobreden zu verzichten. Als er geendet hatte, trat er vom Altar fort, und es folgte der Gesang:
„Tritt im Geist zum Grab' oft hin;
Siehe dein Gebein versenken.
Sprich: Herr, daß ich Erde bin,
Lehre Du mich selbst bedenken.
Lehre Du mich's jeden Tag,
Daß ich weiser werden mag.“
Jetzt erfolgte eine feierliche, fast bedrückende Pause. Der Anstaltsdirektor stand noch immer zu Häupten der beiden Särge, so bleich und unbeweglich, als ob er selbst auch tot sei. Jetzt erhob er leise die Hand und sagte in tiefem, ernstem Ton:
„Ja, Herr, daß ich Erde bin, lehre Du mich selbst bedenken! Lehre Du mich's jeden Tag, daß ich weiser werden mag! Diese Worte sind es, welche mir in den Ohren und im Herzen fort und fort geklungen haben, seit ich die erschütternde Nachricht von dem Tod dieser beiden Abgeschiedenen erhielt. Sie sind aus dem Leben gegangen, ohne eine Schuld gebüßt zu haben, die auf ihrem Gewissen lag. Ich als der einzige Überlebende der Familie ihres Namens will diese Schuld von ihnen nehmen, ehe wir ihre Körper der Erde anvertrauen.“
Er schwieg einen Augenblick. Es war ein Augenblick gespanntester Erwartung. Dann sagte er:
„Herr Petermann, kommen Sie mit Ihrer Tochter näher. Ich habe zu Ihnen zu sprechen.“
Das hatten die beiden nicht erwartet. Sie fühlten sich fast erschrocken. Doch ergriff der Vater die Hand seiner Tochter und trat so nahe, daß beide in den hellen Schein der Kerzen zu stehen kamen. Jetzt nun fuhr der Sprecher fort:
„Hier dieser eine der beiden Heimgegangenen hat ein schweres Verbrechen an Ihnen verübt. Er hat Sie um Ihre Freiheit und um Ihre Ehre gebracht, während es doch von ihm nur eines Wortes bedurft hätte, um Ihre vollständige Unschuld zu beweisen. Er schwieg aus Feigheit, und Sie mußten büßen, ohne etwas verbrochen zu haben. Und des anderen Pflicht wäre es gewesen, Gnade walten zu lassen, selbst wenn er von Ihrer Schuld überzeugt gewesen wäre; er aber verhärtete sein Herz und ließ Sie der ganzen Strenge des Gesetzes anheimfallen. Sie waren ein treuer Diener unseres Hauses und opferten sich, um die Ehre unseres Namens aufrechtzuerhalten. Sie wurden als Verbrecher behandelt, und Ihr einziges, unschuldiges Kind fiel in ruchlose Hände, aus denen es glücklicherweise errettet wurde. Das alles haben diese beiden Toten zu verantworten. Sie sind hinübergegangen, ohne Sühne leisten zu können. Ich habe die Pflicht, es an ihrer Stelle zu tun. Ich erkläre hiermit an den Särgen der Schuldigen, daß an Ihnen, Herr Petermann, nicht der mindeste Makel haftet, daß Sie vielmehr den Verstorbenen ein Opfer gebracht haben, für welches die Kräfte von Millionen anderer nicht ausreichend sein würden. Ich bin bereit, Ihnen eine Genugtuung zu gewähren, welche mein Gewissen mir gebietet, bitte Sie aber jetzt als der letzte meines Namens, Ihrem Werk die Krone aufzusetzen, indem Sie den Seelen der Abgeschiedenen Ihre Verzeihung in das Jenseits nachsenden. Darf ich hoffen, daß Sie mir diese Bitte erfüllen?“
Es war so still in der Kapelle, daß man das Zittern einer Spinnwebe hätte hören können. Dann sagte
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