65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
interessierte mich. Man hielt ihren geistigen Zustand für unheilbar.“
„Sie aber nicht?“
„Nein.“
„Herrgott, wenn Sie recht hätten!“
„Es wäre absolut unheilbar, wenn nicht die Möglichkeit vorhanden wäre, daß ein früheres Unglück jetzt für sie zum Glück werden könnte.“
„Welches Unglück, Herr Doktor?“
„Ich meine ihre Blindheit. Ich hatte Gründe, Sie nicht zu benachrichtigen und habe daher nur Ungenaues erfahren, aber nicht wahr, Ihre Mutter ist nicht stets blind gewesen?“
„O nein. Sie wurde es erst vor ungefähr drei Jahren.“
„Aus welchem Grund?“
„Es kam langsam, so nach und nach, ohne daß man den Grund erkennen konnte.“
„Hm! Das ist mir lieber, als wenn sie infolge eines plötzlichen Ereignisses, zum Beispiel einer Erkältung, erblindet wäre. Solche Fälle sind fast stets hoffnungslos. Übrigens haben wir es mit einem nicht unheilbaren Star zu tun. Haben Sie früher Ärzte gehabt?“
„Zwei. Diese gaben sich weder Mühe noch Hoffnung. Wir waren ja arm und konnten nicht zahlen.“
„Es gibt ja Armenärzte!“
„Das waren beide.“
„Ach so! Nun, ich will Ihnen gestehen, daß ich die Operation gewagt habe.“
„Herr Jesus! Ist sie gelungen?“
„Ich hoffe es. Eine Behauptung kann ich freilich nicht aufstellen. Doch ist heute die Zeit, die Binde zu lüften. Da Sie dabei sein sollen, habe ich Sie kommen lassen.“
„Welch eine Nachricht! Herr Doktor, ich bin Ihnen bereits soviel Dank schuldig! Sie verpflichten mich ja immer mehr!“
„Was ich tue, macht mir selbst Vergnügen. Ich darf wohl annehmen, daß Ihr Gesicht Ihrer Mutter bekannt sein wird, da sie erst seit nicht langer Zeit blind ist. Und ebenso ist ihr Fräulein Bertram hier bekannt?“
„Sie kennt uns beide jedenfalls gleich genau.“
„Das ist gut. Ihr erster Blick wird auf Sie fallen. Ich hoffe, daß dieser Blick eine glückliche Wirkung auf den Zustand ihres Geistes hat.“
„Wenn das wäre, Herr Doktor! Oh, wenn es doch wäre!“
„Gott mag es geben! Ich verhehle aber nicht, daß auch eine gewisse Gefahr vorhanden ist. Sollte ihr geistiger Zustand jetzt nicht heilbar sein, was ich aber ganz entschieden bezweifle, so kann ihre Seele durch die zu erwartende Aufregung in ewige, hoffnungslose Nacht versinken – oder es kann diese Aufregung eine solche Wirkung auf den Sehnerv haben, daß sie unheilbar wieder erblindet. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen. Sie sind der einzige Verwandte der Patientin. Sie haben zu erlauben, ob ich kühn sein darf oder nicht.“
„Seien Sie es; seien Sie es, Herr Doktor! Ich habe alles, alles Vertrauen zu Ihnen!“
„Ich danke! Versuchen wir es also in Gottes Namen. Kommen Sie mit mir!“
Er führte sie in ein anderes Zimmer, dessen Fenster so verhängt waren, daß ein sehr gedämpftes Licht in dem Raum herrschte.
„Bitte, Herr Fels, setzen Sie sich da auf das Sofa und sagen Sie kein Wort. Bewegen Sie sich auch nicht. Sollte Ihre Mutter sprechen, sollte sie fragen, so antworten Sie nur dann, wenn ich Ihnen durch einen Wink die Erlaubnis dazu gebe. Und Sie, Fräulein Bertram, bleiben hier hinter diesem Bücherschrank stehen, bis ich Ihrer bedarf.“
Den Fürsten bat er, sich hinter die Portiere zu stellen. Dann begab er sich in das Nebenzimmer, dessen Eingang gerade gegenüber dem Sofa stand, auf welchem Fels saß.
Beim öffnen der Tür konnte man bemerken, daß dieses Nebenzimmer vollständig dunkel sei.
Es trat eine höchst erwartungsvolle Pause ein. Der Sohn der unglücklichen Frau zitterte fast vor Aufregung. Jetzt brachte Zander die Leidende geführt. Ihre Augen waren verhüllt, und zwar so, daß sie die Binde nicht selbst entfernen konnte. In ihrem irrsinnigen Zustand hätte sie dies jedenfalls getan.
Sie folgte der Hand des Arztes ganz willig. Dabei aber murmelte sie leise klagend:
„Blut! Blut! Er ist tot – tot – tot!“
Es war ihr nur der plötzliche Tod des Nachbars Bertram im Gedächtnisse geblieben. Wurde etwas früher Geschehenes ihrer Erinnerung wiedergegeben, so war ein Erwachen ihres Geistes möglich. Da hatte Doktor Zander vollständig recht. Und so etwas Früheres waren doch die beiden bekannten Gesichter, welche sie jetzt sehen sollte, falls die Operation eine gelungene gewesen war.
Der Arzt schob einen Stuhl gerade unter die Türöffnung und setzte die Kranke darauf, so daß sie Ihrem Sohn sich gerade gegenüber befand. Dann begann er, die Binde zu lösen.
„Also bitte, keine Unvorsichtigkeit!“
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