65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
Wilhelm?“
Marie zögerte, da sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Darum rief die Kranke schnell:
„Siehst du, daß es nicht wahr ist, was du sagst! Du gibst keine Antwort! Wo ist er? Im Gefängnis!“
Jetzt sah Zander seine Zeit gekommen. Er trat schnell einige Schritte in das andere Zimmer zurück und hustete so laut, daß sie es hören mußte.
„Ist noch jemand hier?“ fragte sie, den Kopf in lauschende Stellung zur Seite legend.
„Es ist der Herr Doktor Zander“, antwortete Marie.
„Bei dem ich mich befinde?“
„Ja.“
„Ich muß mit ihm reden. Gleich, gleich!“
Sie stand vom Stuhl auf und drehte sich um. Er kam langsam auf sie zu und sagte in mildem Ton:
„Regen Sie sich nicht auf, Frau Fels. Sie müssen sich noch schonen. Sie sind noch zu schwach.“
„Gott! So war ich wirklich krank?“
„Gewiß. Sehr krank.“
„Hatte ich das Fieber?“
„Ja. Sie haben sehr viel dummes Zeug gesprochen.“
„Und Wilhelm ist nicht gefangen?“
„Gott bewahre!“
„Beweisen Sie es; beweisen Sie es!“
„Schön! Sie sollen ihn sehen und mit ihm sprechen, wenn ich sicher sein kann, daß Sie sich nicht aufregen.“
„Ich werde ganz ruhig sein. Was soll mich aufregen, wenn ich meinen Sohn sehe?“
„Gut, setzen Sie sich nieder. So, hierher! Und nun warten Sie. Schließen Sie die Augen!“
Sie gehorchte wie ein Kind. Zander winkte dem Sohn. Dieser kam hinter dem Bücherschrank hervor. Sein Gesicht war naß vor Tränen. Er kniete vor ihr nieder.
„Mutter, liebe Mutter!“
Da schlug sie die Augen auf. Sie sah den Ersehnten vor sich. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck unendlicher Seligkeit an. Sie legte ihm beide Hände auf das Haupt und sagte mit zitternder Stimme:
„Mein Kind, mein liebes, liebes Kind! Da bist du, ja, da bist du! Gott segne dich viele tausend, tausend Male!“
Sie sah seine Tränen, legte sein Gesicht in ihren Schoß nieder und fuhr fort:
„Ja, ich muß lange krank gewesen sein. Nicht?“
„Sehr lange.“
„Wie lange denn?“
„Wohl ein halbes Jahr.“
„Das glaube ich. So kommt es mir vor, so und soviel länger. Warum aber bin ich hier und nicht zu Hause?“
„Hier hast du bessere Pflege.“
„Aber wir sind arm, Wilhelm!“
„Herr Doktor Zander tut es umsonst.“
„Der liebe, gute Herr! Hast du mich oft besucht?“
„Sehr oft.“
„Und ich weiß nichts davon. Ich habe dich nicht erkannt. Ich habe nur immer phantasiert. Weißt du, Herr Seidelmann ist mir stets erschienen. Ich fürchtete mich so wegen der Miete. Er drohte mir.“
„Sie ist bezahlt.“
„Gott sei Dank! Da kann ich ruhig sein. Wie lange muß ich noch hierbleiben?“
„So lange, wie es der Herr Doktor bestimmt.“
Sie wendete das Gesicht nach Zander, und dieser sagte:
„Wir wollen später davon sprechen, liebe Frau. Jetzt bedürfen Sie noch meiner Pflege. Sind Sie nun beruhigt?“
„Ja. Ich danke Ihnen. Ich fühle mich wohl, aber müde. Mein Kopf tut mir weh.“
„So werden Sie sich jetzt zu Bett begeben. Ich möchte haben, daß Sie recht, recht lange und ungestört schlafen. Das wird Ihnen neue Kräfte geben und zu Ihrer schnellen Gesundung vieles beitragen.“
„Soll mein Sohn bei mir bleiben?“
„Nein. Sie bedürfen ihn während des Schlafes nicht.“
„Auch dort Marie nicht?“
„Nein. Wenn Sie erwachen, werde ich nach ihnen schicken, wenn Sie das wünschen. Ich werde jetzt Ihre Wärterin rufen, der können Sie sich anvertrauen.“
„Eine Wärterin? Auch diese kenne ich nicht. Das Fieber muß sehr schlimm gewesen sein!“
Zander holte die Verwandte aus dem Vorzimmer, von welcher sich die Kranke, nachdem sie von ihrem Sohn und von Marie Abschied genommen hatte, geduldig fortführen ließ. Er schloß die Tür hinter ihr und sagte, indem er tief und erleichtert Atem holte:
„Gott dem Herrn sei Dank, sie ist gerettet!“
Fels streckte ihm beide Hände entgegen und sagte:
„Herr Doktor, wenn ich Ihnen das vergesse, so möge Gott meiner vergessen! Ich bin arm; ich kann Sie nicht bezahlen, aber mein Leben gehört Ihnen.“
Marie weinte vor tiefer Bewegung, und der Fürst, welcher hinter der Portiere hervorgetreten war, gab ihm auch die Hand und sagte tief gerührt:
„Auch ich werde diese Stunde nicht vergessen! Das haben Sie meisterhaft gemacht. Da muß ja Ihr Ruhm von Tag zu Tag steigen! Aber vorsichtig, höchst vorsichtig muß sie behandelt werden. Nicht?“
„Allerdings! Die Zeit nach ihrer Erblindung ist ihr nicht gegenwärtig, man darf von dieser
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