65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
wenn du dich neben mich setzt. Komm! Ah, nicht? Magst du nichts von mir wissen?“
Sie wandte sich ab und antwortete nicht.
„Sag es, Marie!“ bat er. „Du magst nichts mehr von mir wissen?“
Sie antwortete nicht. Darum fuhr er fort:
„Hast du meine Briefe erhalten?“
„Ja“, sagte sie, doch ohne ihn anzusehen.
„Und auch gelesen?“
„Ja.“
„Ich bat dich, mit dir sprechen zu dürfen. Ich bat um Antwort, ich gab meine Adresse an. Du schriebst nicht wieder. Nun schrieb ich einen nächsten Brief. Ich bat dich um eine Zusammenkunft. Ich gab dir die Zeit und den Ort an. Ich ging hin, aber du kamst nicht.“
„Ich konnte nicht“, antwortete sie zögernd.
„Warum nicht?“
„Ich hatte keine Zeit.“
„Keine Zeit! Für mich! Auf solche Bitten! Ich habe so viele, viele Male vor dem Haus gestanden, und du mußt mich auch gesehen haben. Nicht wahr, du hast mich gesehen?“
Sie nickte, ohne zu sprechen.
„Ich dachte, du würdest einmal herunterkommen, du aber kamst nicht. Du hattest auch da keine Zeit?“
„Ja.“
„Das ist traurig! Ich denke nun, daß du auch fernerhin keine Zeit haben wirst. Du magst nichts mehr von mir wissen. Es soll zwischen uns aus sein. Nicht wahr?“
Sie atmete schwer und stieß erst nach einer Weile hervor:
„Ja, es ist aus!“
„Ganz gewiß und unwiderruflich?“
„Ganz gewiß.“
Da endlich ließ er ihre Hand los, ging langsam zum Stuhl und setzte sich nieder. Sie wankte zum Fenster und blieb dort stehen, mit dem Rücken nach ihm gekehrt. So blieb es eine ziemliche Weile still im Zimmer.
„Marie!“ sagte er endlich.
Sie antwortete nicht.
„Warum soll es denn aus sein?“
Auch jetzt erhielt er keine Antwort.
„Weißt du noch, wie schön es war in der Wasserstraße, wenn wir miteinander auf der alten Ofenbank saßen, und die Mutter ging hinaus, um uns allein zu lassen?“
Sie schluchzte leise vor sich hin.
„Wir waren arm, sehr arm; aber es war schön!“
Sie hielt die Hand an die Augen, antwortete aber nicht.
„Jetzt freilich ist es anders“, fuhr er fort. „Ihr seid reich.“
„Wilhelm!“ stieß sie hervor.
„Nun ja. Dein Bruder ist beim Fürsten, und du bist bei einer Baronesse. Was soll da der arme Mechanikus!“
„Wilhelm, das ist's nicht!“
„Was denn?“
„Du weißt es.“
„Ach ja, ja, ich weiß es“, sagte er, wie sich besinnend. „Der arme Mechanikus arbeitete Tag und Nacht, damit seine Mutter nicht hungern sollte und weil er ein Mädchen so sehr, so sehr lieb hatte. Er war unvorsichtig und nahm einiges Arbeitsmaterial; er wollte es nicht stehlen –“
„Wilhelm!“ rief sie in bittendem Ton.
„Bei Gott, er wollte es nicht stehlen; er wollte es bezahlen, aber er kam nicht dazu. Er wurde arretiert und mit Gefängnis bestraft. Das ist es, ja, das ist es.“
Da fuhr sie rasch herum und fragte:
„Was soll das sein?“
„Der Grund, warum du nichts mehr von mir wissen magst. Ich bin gefangen gewesen.“
„Nein, nein, das ist es nicht!“
„O doch! Gewiß!“
„Nein.“
„So sag es mir!“
Sie wurde unter Tränen glühend rot und antwortete:
„Du weißt es ja. Du weißt, wo ich gewesen bin.“
„Nun, wo denn?“
„An der Ufergasse.“
„Du hast doch nicht hingewollt und hast dich gewehrt. Das weiß ich genau.“
„Und dann bei der Melitta in Rollenburg.“
„Auch dafür kannst du nichts. Und was hast du denn dort getan? Nichts, gar nichts. Wir sind ja gekommen und haben dich geholt!“
„Wenn auch. Wer in einem solchen Haus gewesen ist, der –“
Tränen erstickten ihre Stimme. Er aber stand schnell bei ihr, ergriff ihre Hand wieder und fragte:
„Nichts anderes? Weiter nichts?“
„Nein, weiter nichts.“
„Es soll zwischen uns aus sein deinetwegen, nicht aber meinetwegen?“
„Ja.“
„Herrgott! Mädchen, was fällt dir ein! Würde ich dich aus Rollenburg geholt haben, wenn es aus sein soll?“
„Aber so etwas läßt sich nie vergessen!“
„So etwas? Was denn? Du hast ja gar nichts Unrechtes getan! Ich habe alles erfahren, wie es gewesen ist. Der Tod deines Vaters hat dich so verstört gemacht. Dazu ich gefangen und Robert gefangen! Du bist ja fast irrsinnig gewesen. Du warst es ja noch in Rollenburg. Erst als du mich erkanntest, bist du so langsam wieder zu Bewußtsein gekommen. Geh, du mußt mich aber doch für einen schlechten Menschen halten!“
Er sagte zwar ‚Geh‘, zog sie aber doch an sich heran, und jetzt ließ sie es geschehen. Er blickte ihr in das
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