66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
aufigstiegen?“
„Wie das möglich geworden ist, kann ich mir nicht denken. Ich bin nur einmal bis zum Rande hingekrochen, um einen Blick hinabzuwerfen, aber es ist mir sogleich schwarz vor den Augen geworden.“
„So bist leicht schwindelig?“
„Ja.“
„O wehe! Da werde ich dir die Augen verbinden müssen.“
„Ist das nötig?“
„Unbedingt. Wann du im Schwindel eine falsche Bewegung machst, sind wir alle beid verloren.“
„Aber wie willst du mich denn tragen?“
„Das ist ganz schön und hübsch für dich. Schau den Lehnstuhl dort! Auf diesen setzt du dich, und ich bind dich und ihn mir auf den Buckel. Auf diese Art und Weis spazier ich nachhero abwärts.“
„Mit solcher Last!“
„Oh, du bist halt keine dicke Bäckerswitwe, die drei Zentner Speck am Leib hat. Mit dir werd ich schon bald fertig. Hast Hunger?“
„Nein.“
„Das ist gut, denn ich hab nix zu essen mit. Aber wann wir hinabkommen, nachhero kannst alles haben, was dein Herz begehrt. Jetzt nun will ich das Eisen festmachen.“
Er holte das zweite Eisen heraus und den Hammer, und begann das erstere in den Felsen zu treiben. Als er aus allen Kräften zu hämmern begann, rief die Professorin erschrocken:
„Um Gottes willen, was tust du!“
„Ich mach ein Loch.“
„Der Felsen zittert. Wenn er nun abstürzt!“
„So stürzen auch wir und sind tot.“
„So halte doch auf!“
„Das kann nix nutzen. Schau, wann wir hinab wollen, so muß ich hier das Seil festmachen, nachhero sind wir gerettet; also muß ich klopfen. Bricht der Stein ab und wir mit ihm, so haben wir einen raschen Tod; das ist doch besser, als daß ich nicht klopfe, und wir verschmachten hier.“
Sie sah ein, daß er recht hatte. Als das Spitzeisen im Felsen einen festen Halt hatte, schlang er sich das zweite Seil vom Leib und befestigte es an das Eisen.
„Es ist ja viel zu kurz“, sagte sie.
„Das hast sehr richtig gesagt“, antwortete er lächelnd. „Es müßt grad zwanzigmal länger sein, wann es bis hinab reichen sollt. Aber ich will mich auch nicht seilen bis ganz hinab.“
„Wie sonst?“
„Schau, grad unter uns ist wieder so ein kleiner Stein, gar nicht groß und breit, höchstens eine Viertelellen, so daß man gerad den Fuß darauf setzen kann. Wann ich nur einmal da auf demselbigen steh, sodann ist's gut; es wird dann schon die Stellen geben, wo ich den Stock einhaken kann oder Platz für die Fußspitz find.“
„Das ist doch gefährlich!“
„Nicht so gefährlich wie hier bleiben und verschmachten. Willst mit hinab?“
„O Gott, mir graust vor dieser Tiefe!“
Sie verhüllte die Augen mit den Händen.
„Aber hinab mußt doch einmal! Tu mir den Gefallen und denk an deinen Mann!“
„Verzeih mir! Du erscheinst mir wie ein Engel vom Himmel, und ich bin so kleinmütig.“
„Denk an das heilige Bibelbuch, worinnen zu lesen ist, daß die Engel kommen und den Menschen halten, daß er an keinen Stein stößt. Nicht wahr, du steigst mit abi?“
„Ja.“
„So komm her, und setz dich auf den Stuhl!“
Sie tat es. Er band ihren Leib und ihre Arme an die Lehne und ihre Beine an diejenigen des Stuhles fest. Dann verband er ihr mit ihrem Taschentuch auch die Augen, was sie ruhig geschehen ließ.
„Ich ergebe mich Gott und dir!“ hauchte sie.
„Gott wird uns schützen. Ich werd schon ganz gut hinab kommen, wann du mir nur versprichst, dich nicht zu regen und zu bewegen, auch nicht zu schreien. Du mußt grad ebenso sein, als ob du tot und begraben seist.“
„Ich verspreche es dir.“
„So mag es denn beginnen.“
Jetzt kauerte er sich nieder, um sich den Stuhl auf den Rücken zu binden, so daß die Stuhllehne zwischen seinem Rücken und dem ihrigen zu liegen kam. Dann erhob er sich.
„Geht's fort?“ fragte sie.
„Ja. Ich wollt aber erst auch probiern, wie schwer du bist. Das ist grad wie eine Feder. Wann du still bist, so werd ich denken, ich habe gar nix auf dem Buckel. Bet auch recht schön leise immerfort, denn jetzt beginnt's.“
Er mußte natürlich das obere, erste Seil, mit dessen Hilfe er hierher gekommen war, hängen lassen. Jetzt kroch er bis zum Seitenrand des Vorsprungs, kniete dort nieder, ergriff das Seil, rutschte langsam vom Stein ab und ließ sich sodann am Seil hinab. Den Alpenstock, von welchem das Gelingen des ungeheuren Wagnisses abhing, hatte er natürlich nicht auf dem Vorsprunge zurückgelassen; er trug ihn mit sich, so daß er die obere Krümmung desselben in den Zähnen hielt.
So ging es
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