66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
am Seil abwärts, bis er die erwähnte Stelle erreichte, auf welcher sein Fuß Halt fand.
„Hörst mich, Frau?“ fragte er.
„Ja.“
„Das Seil ist zu End, und ich muß mich nun nur auf meine Füß und auf den Stock verlassen. Leg dich recht schwer nach hinten, so daß mich dein Gewicht nicht von der Wand abzieht, sonst stürzen wir hinab.“
Sie gehorchte. Er nahm eine möglichst zusammengebogene Stellung ein, um im Gleichgewicht zu bleiben, mußte sich aber freilich sagen, daß die geringste Bewegung ihrerseits ihr beiderseitiges Verderben sein werde. Glücklicherweise war sie vor Angst fast gelähmt. Sie bewegte sich nicht. Sie wagte ja kaum zu atmen.
Was er bisher getan hatte, war fast nur ein Kinderspiel zu nennen gegen das, was er noch zu unternehmen hatte. Auf dem kleinen Vorstoß hängend, richtete er den klaren, scharfen, furchtlosen und schwindelfreien Blick neben und unter sich, um einen zweiten Punkt für Fuß und Stock zu finden, dabei aber immer berechnend, daß es von da aus auch weitere Anhaltspunkte gebe.
So begann der Abstieg, bald grad abwärts, bald zur rechten oder zur linken Seite. Oft gab es keine Stelle mehr, um Fuß zu fassen, und dann mußte er mit Lebensgefahr wieder zurück, um dann andere Stellen zu suchen.
Es gehörten, die Eigenschaften der Seele ganz abgerechnet, Muskeln von Eisen und Flechsen von Stahl, Nerven aber wie von Erz dazu, diesen Gang in den Abgrund auszuführen. Und das war bei Anton vorhanden. Immer tiefer und tiefer kam er. Die zuschauende Menge hielt es nicht für möglich. Noch fünfzig, noch vierzig Ellen war er vom Boden entfernt; dann nur noch dreißig, zwanzig – zehn Ellen. Noch fünf – vier – drei – zwei Ellen; dann tat er den kleinen Sprung. Er stand auf fester Erde – die Professorin war gerettet.
Man hätte denken sollen, daß nun ein großer Jubel zu hören gewesen sei, aber mitnichten.
Der Augenblick war ein zu gewaltiger. Alle sanken auf die Knie nieder. Da begann der Pfarrer:
„Ich rief den Herrn in meiner Not:
Ach Gott, vernimm mein Schreien!
Da half mein Helfer mir vom Tod
Und ließ mir Trost gedeihen.
Drum Dank, ach Gott, drum dank ich dir.
Ach danket, danket Gott mit mir!
Gebt unserm Gott die Ehre!“
Alle sangen mit, alle, nur Antons Eltern nicht und der Professor nicht; diese fanden selbst zu diesem Loblied keine Worte, keine Töne. Und Anton stand unbeweglich da, aber seine Knie zitterten. Nach der entsetzlichen, übermenschlichen Anstrengung trat die Reaktion ein. Er kniete langsam nieder, so daß er den Stuhl zur Erde setzte, und löste den Strick, mit welchem er ihn an sich befestigt hatte.
Bereits war der Professor herbeigesprungen. Er riß seiner Frau das Tuch von den Augen und zog sie weinend in seine Arme, obgleich sie noch an den Stuhl gefesselt war.
An den Schultern Antons aber hingen seine alten Eltern, laut schluchzend vor Freude, Glück und Stolz. Das dauerte aber gar nicht lange, denn nun drängten sich auch die andern heran. Jeder wollte dem mutigen Retter die Hand drücken und ihm ein Wort der Bewunderung, der Anerkennung sagen.
Der Professor umarmte ihn.
„Anton“, sagte er, „was du heut an uns getan hast, das hast du dir getan. Ich will nicht von Dank sprechen; aber Gott soll meiner vergessen, wenn ich dieses Augenblickes vergesse. Sei mein Bruder, mein Sohn! Was ich habe, das gehört auch dir!“
In jubelndem Triumph wurden Retter und Gerettete hinab in das Dorf geführt. Dort angekommen, flüchtete Anton sich mit den Eltern sogleich in sein Hüttchen. Franza war mit nach dem Gasthaus gegangen, wo der Professor logierte. Die Frau Professorin befand sich in einem höchst hilfsbedürftigen Zustande, und die derben Bewohnerinnen des Ortes waren zur Behandlung der zarten Dame so wenig geeignet, daß eben Franza sich derselben annahm.
Natürlich mußte Anton vor allen Dingen berichten, was er während der Rettungstat gedacht und gefühlt habe. Dann aber wurde er gefragt, warum er erst heut nach Hause gekommen sei. Er erzähle seine Erlebnisse, und da fiel ihm erst das Geld ein, welches er einstecken hatte. Vor Eifer, für die Professorin das Wagnis zu unternehmen, hatte er gar nicht daran gedacht. Er zog die blanken Goldstücke hervor, legte sie auf den Tisch und sagte:
„Da schaut, was ich euch mitgebracht habe.“
„Herrjeses!“ rief seine Mutter, vor Entzücken die Hände zusammenschlagend. „Das sind ja meiner Seel lauter Goldstückerln! Wo hast denn diese her?“
„Von dem Herrn aus
Weitere Kostenlose Bücher